Exkurs:
Theorie zu Traversen
kletterblatt 2013
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TECHNIK
Praxis
richtung des Kletterers würde ei-
nen eventuellen Sturz des Baumes
eher begünstigen. Bei der Stamm-
abtragung würde der Kletterer auf
der Unterseite des Stammes hän-
gen – nicht so bequem– oder, wäh-
rend er auf der Oberseite steht,
ständig das Seil nah am Stamm
haben.
UnsereWahl des Verlaufs ermög-
lichte eine sehr bequeme Arbeits-
platzpositionierung, der leichte
Gegenzug vomStammwegmachte
auch das seitliche Stehen am
Stamm möglich. Nur im Kronen-
bereich war der Seilwinkel dann
sehr steil, so dass der finale Fäll-
schnitt der Restkrone einiges an
akrobatischem Geschick erfor-
derte. Aber stets wirkte der Zug
des Systemseils gegen die mög-
liche Bruchrichtung des Baumes
– ein statischer Vorteil.
Der Aufbau
Nachdem wir die beiden Kandi-
daten für die Traverse bestimmt
hatten, schlugen wir ein 10,5 mm
Semistatikseil (200m) mit beiden
Enden fix an Kandidat 1 in einer
Höhe von ca. 15man. Da der abzu-
tragende Baum in einer Mulde
stand, war die relative Höhe des
Ankerpunktes ca. 20 m. Dann
platziertenwir alsAnkerpunkt auf
den beiden Strängen des Traver-
senseils eine Doppelrolle, an der
wirmit zwei Karabinern eine Tan-
demrolle befestigten, durch die das
umlaufende System verlief. (Abb.
1). In Kandidat 2 schlugen wir
oben (wieder ca. 20 m relative
Höhe) zwei Umlenkrollen an und
hängten dort die beiden Stränge
des Traversenseils ein – der lau-
fende Ankerpunkt natürlich in der
Mitte zwischen Kandidat 1 und 2.
Noch hing das Traversenseil bis
zum Boden durch. Am Stammfuß
von Kandidat 2 schlugen wir mit
einer Schwerlastschlinge und ei-
ner Riggingplatte zwei separate
Spannvorrichtungen parallel an.
Wir benutzten je ein Rig, einen
Rescucender und eine Rolle, um
ein Z-Rig (Faktorenflaschenzug
mit dreifacher Kraftübertragung)
zu bauen (Abb. 2). Nun konnten
wir die Traverse spannen und der
laufende Ankerpunkt schwebte
davon. Die Traverse war übrigens
komplett redundant aufgebaut.
Nur die Ankerpunkte und das um-
laufende System selber waren
nicht redundant.
Wenn man mit horizontal gespannten Seilen
(Traversen) arbeitet, treten ganz andere Kräfte
als bei Vertikalseilen (Baumpflegesystem)
auf. Die in der Baumpflege benutzten PSA-
Elemente sind so dimensioniert, dass im
schlimmsten Fall zuerst der Körper von innen
zerfetzt, bevor überhaupt materialkritische
Lasten entstehen. (Maximaler Fangstoß, den
man mit viel Glück überleben kann: 12 kN,
Mindestanforderung an PSA-Elemente 15 –
22 kN). Bei Traversen hingegen kann die
Krafteinwirkung auch bei für den Körper
harmlosen Fangstößen die Grenzen des Ma-
terials und der Ankerpunkte überschreiten.
Für die Berechnung der Kraft, die bei Traver-
sen auf das Seil und die Ankerpunkte wirkt,
gibt es zur Vereinfachung eine gängige
Faustformel*:
F=
L * G
D * 4
F = Krafteinwirkung auf Ankerpunkte und
Seil in kN
L = Länge bzw. Distanz zwischen den Anker-
punkten in m
D = Durchhang des Seils unter Last in m
G = Gewichtskraft der Last in kN
Da es oft schwer ist, die wirklichen Längen
vom Boden aus abzuschätzen, können wir
den Durchhang auch in Prozent angeben:
D=
100 * D
L
Die Faustformel lautet dann:
F=
25 * G
D
Das bedeutet: Je weniger Durchhang bei glei-
cher Last, desto größer die Krafteinwirkung
auf Material und Ankerpunkte. Wie stark
muss demnach der Durchhang sein, wenn
man eine Traverse mit einem Semistatikseil
(Bruchlast minus Knoten: 15 kN) baut, die
eine Kraft von 12 kN aushalten soll?
D=
25 * G
=
25*12kN
= 20 %
F
15kN
Das bedeutet bei einer Distanz von ca. 30 m
ein Durchhang von 6 m. Weshalb ist der
Durchhang auf den Bildern viel geringer? Der
Durchhang von 20 % bezieht sich auf eine
theoretische Lastspitze von 12 kN - beim Ar-
beiten wirkt normalerweise eine Kraft von ca.
1 kN (≈ 100 kg: Kletterer inkl. Ausrüstung
und Motorsäge). Wollte man den Durchhang
bei 12 kN ermitteln, müsste man den Anker-
punkt mit einem Flaschenzug zum Boden zie-
hen. Dabei würde sich das Seil viel weiter deh-
nen und die Baumspitzen viel weiter zusam-
men gezogen werden als unter Arbeitslast.
Speziell in unserem System ist die wirksame
Seillänge aufgrund der Umlenkung in Kandi-
dat 2 um die Höhe von Kandidat 2 erhöht, was
noch mehr mögliche Seildehnung bedeutet.
Da die Ermittlung des Durchhangs also etwas
knifflig ist, bietet sich als alternative Herange-
hensweise die Vorspannung an. Das ist die
Spannung, die das Seil ohne Last hat. Je grö-
ßer die Vorspannung, desto kleiner der Durch-
hang, desto größer die Kraft auf Seil und An-
kerpunkte. Ohne dies hier mathematisch zu
vertiefen, kann man sich für die Praxis mer-
ken: Wer eine Traverse mit Z-Rig und ein-
facher Personenkraft spannt, hat noch genü-
gend Sicherheitsreserven.
Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Arbeit
mit Traversen zwischen Bäumen ist die Aus-
wahl der Ankerpunkte. Bei normalen Baum-
pflegesystemen werden die Ankerpunkte so
gewählt, dass die Belastung in Faserlängs-
richtung des Holzes verläuft. Bei horizontal
gespannten Seilen ist das anders: Die Kraft
wirkt quer zur Faser – die Bruchgefahr ist un-
gleich höher und die Standfestigkeit des ge-
samten Baumes wird aufgrund der Hebelkraft
viel mehr beansprucht.
Abb. 1