kletterblatt 2013
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Technik
Praxis
E
ines Tages fiel mir beim Arbei-
ten in einer Villengegend im
Nachbargarten eine abgestorbene,
mit Efeu überwachseneKiefer (Pi-
nus Sylvestris) auf, die eine Nei-
gung von etwa 30° hatte. DieKiefer
war seit zwei Jahren tot, die Na-
deln waren sämtlich abgefallen,
aber Feinäste waren noch vorhan-
den. Pilzfruchtkörper waren zwar
nicht zu sehen, aber vomSchadbild
her zuurteilenwarwahrscheinlich
Hallimasch dieTodesursache. Alle
waren sich einig, dass der Baum
unbedingt abgetragen werden
musste. Auf meine Nachfrage hin
lehnte die Besitzerin jedoch ab –
sie habe schon jemand anderen, der
dasmachenwolle.
DreiWochen später dann der An-
ruf: Zwei andere Firmen hätten
abgelehnt, ob ich mir die Sache
nicht doch noch mal anschauen
könnte. Vor Ort fand ich heraus,
dass dieMitstreiter vorgeschlagen
hatten, mit einerHubarbeitsbühne
zu arbeiten. Da der Baum in einer
Mulde im hinteren Gartenbereich
stand, hätte das aufgrund des
schwierigen Zugangs vorausge-
setzt, den Zaun zum Nachbar-
grundstück abzubauen und mit
einer Spezialbühne, die steile Ab-
hänge herunterkommt, anzufah-
ren. Und auch dannwar nicht klar,
ob man an den hinteren Teil der
Krone herankommt. Das schien
der Baumbesitzerin zu unsicher.
Sie bevorzugte meine Idee und
setzte auf Seiltechnik statt großer
Gerätschaften.
Die Aktion beginnt
Es war ein wunderschöner son-
niger Herbsttag, wir waren ein
eingespieltes Teamvon zwei Klet-
terern und einemBodenmann.Mit
von der Partie war ein Kamera-
mann, der das Ganze für dieNach-
welt festhalten sollte. Beste Vo-
raussetzung also, um mit Freude
und Elan auf ungewöhnlicheWei-
se einen Baum abzutragen.
Die Voraussetzungen
❚
Ein abzutragender Baum, der
nichtmehr standsicher genug ist,
um sich an ihm zu sichern.
❚
Kein direkter Nachbarbaum, um
sich darin extern zu sichern.
❚
Mehrere weiter entfernte Nach-
barkiefern.
Die Idee
Ein Seil horizontal zwischen
zwei Kiefern zu spannen (Traver-
se), auf dem ein Ankerpunkt läuft,
an dem ein umlaufendes System
angeschlagen ist.
Die Vorbereitung
Zuerst mussten wir die beiden
Kandidaten für die Traverse aus-
wählen. Wir entschieden uns für
zwei Kiefern, die einen Verlauf der
Traverse, deren Mittelpunkt lot-
recht über dem Stammfuß kreuzt,
ermöglichen. Ein Verlauf lotrecht
über der Krone (bzw. unter Last
dann eher quer durch die Krone)
wäre auch möglich gewesen, hätte
aber mehrere Nachteile: Am An-
fang würde der Kletterer an den
Stamm gezogen werden und im
Falle eines Balance-Verlustes ge-
gen den Stammpendeln. Die Last-
Baumabtragung
mit Traverse
Horizontal
statt vertikal
Abb. 2
Was tun, wenn ein Baum abgetragen
werden soll, an dem der Kletterer sich
nicht sichern kann und eine externe
Sicherung in Nachbarbäumen nicht
möglich ist? Auch der Einsatz einer
Hubarbeitsbühne wäre problematisch
gewesen. So musste nach einer
pfiffigen Lösung gesucht werden,
die gefunden wurde, aber auch ihre
Probleme hätte haben können. Ein Be-
richt von Jakob von Recklinghausen.