kletterblatt 2013
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die wahren Gründe heute vergessen hat. Jeder
schreibt vom anderen ab und vergisst, bei Systemän-
derungen alles neu zu hinterfragen. Gefragt, warum
Obstbäume imWinter geschnitten werden, werden
heutemeist nur als Gründe angegeben, der Bauer hät-
te imWinter mehr Zeit oder man könne die Äste bes-
ser überblicken. Das mag schon richtig sein, aber als
Begründung für generellen Winterschnitt taugt das
nicht. Wenn dem so wäre, hätte der Bauer ja auch
noch gleich seinenWeizen in dieser Zeit aussäen kön-
nen. Und nicht nur ich habe als Baumschnittexperte
auch den Überblick, wenn Äste belaubt sind.
Wenn der Winterschnitt Nachteile gegenüber dem
Frühjahrs- oder Sommerschnitt gehabt hätte, dann
hätte der Bauer den Winterschnitt schnell wieder
bleiben lassen. Diese Begründungen sind für mich
deshalb völliger Quatsch, leider oft auch zitiert von
vermeintlichen Obstbaumexperten und Agrarhisto-
rikern, die wahrscheinlich keine Praxis haben und
voneinander abschreiben. Oder noch banaler: Solche
Sätze lassen sich sehr leichtmerken. Sie sind unwich-
tig und banal, aber einprägsam und wie so oft, sie
klingen durchaus logisch. Das alleine darf aber nicht
der Grund sein, alles zu glauben, weil es logisch
klingt. Gerade die Wissenschaft müsste das wissen.
Oder vielleicht doch nicht? Noch
immer geistert z.B. die Lehrmei-
nung durch Schulbücher, Kirche
und König hätten demKolumbus
nicht geglaubt, dass die Erde kei-
ne Scheibe sei.
Reservestoffe
Der Hauptgrund für den Win-
terschnitt liegt in der Baumphysi-
ologie begründet. Der Obstbauer
möchte Jahr für Jahr immer wie-
der gesunde Jungtriebe. Die be-
kommtman nicht, wennman ein-
fach ziellos während der Vegetation schneidet, son-
dern dann, wenn der Baum optimal Reservestoffe
einlagern konnte. Und wenn es dem Baumschneider
dannnoch gelingt, durch dieArt des Schnittes dieRe-
servestoffe so in die Knospen zu steuern, dass die Re-
servestoffe nicht nutzlose Wasserschosse bringen,
sondern produktiv gleichmäßig in alle Knospen um-
geleitet werden, dann hat er alles richtig gemacht.
Wie das gemacht wird, dazu habe ich Erkenntnisse
und Erfahrungen gewonnen, die ich zu einem spä-
terenZeitpunkt vorstellen und veröffentlichenwerde.
Vitalität
Mit Schnitt imWinter regt man bei normal gesun-
den Bäumen durchaus die Vitalität an. Wahrschein-
lich ist dasWort „Vitalität“ in der Baumpflege in Ver-
ruf geraten, weil einst imWinter Bäumewild gekappt
wurden, danach stark ausgetrieben haben und die
nachgewachsenen Äste nach einigen Jahren auf der
ausgefaulten Kappungsstelle ausgebrochen sind.
Treiben die Bäume nachWinterkappungen stark aus,
meint der Kunde, alles sei gut, weil der Baum doch
wieder grün aussehe und offensichtlich vital sei. Der
Baumpfleger hingegen sieht, dass der Baum zwar
sehr wüchsig ist und viele junge kräftige Triebe
schiebt, aber er ist fokussiert auf die zweifellos schäd-
liche Faulstelle, und der eigentlich
vitale Austrieb wird deshalb als Ne-
gativ eingelesen. Aber nicht die Vita-
lität oder Wüchsigkeit ist schlecht,
sondern es ist die nicht fachgerechte
Astabnahme der Kappung. Hierin
liegt der Hauptfehler und nicht im
vermeintlich falschen Schnittzeit-
punkt imWinter.
Richtige Schnittführung
Shigo, Dujesiefken und viele andere
Wissenschaftler haben wertvolle
Hinweise dafür gefunden und
zeit
Schnitt