Kletterblatt 2012 - page 89

kletterblatt 2012
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Seilzugangstechnik
Report
Holzschindeln scheint meines Er-
achtens nicht viel genützt zu ha-
ben, bei dieser Vielzahl von Lö-
chern!
Wir stiegen den Kirchturm hi-
nauf und oben angekommen, wur-
de ich von einem Lichtspiel über-
rascht, das durch die Arbeit des
Spechts entstanden war: Licht-
strahlen durchfluteten den ganzen
Kirchturm so wunderbar, dass ich
spontan demKirchenpfleger sagte,
dies sei ein sehr schöner Arbeits-
platz. Der Kirchenpfleger sah je-
doch nur den Grund für das faszi-
nierende Lichtspiel, nämlich die
Löcher des Spechtes, und konnte
deshalb meine Begeisterung nicht
mit mir teilen.
Anschließend nahm alles seinen
Lauf. Ich erkundete den Kirch-
turm, suchte nach der günstigsten
Zugangslösung, demAusstieg aus
dem Turm und nach einer Mög-
lichkeit, wie ich die Seile nach
ganz oben zur Spitze bekommen
würde – natürlich immer redun-
dant gesichert! Zuhause erstellte
ich ein Angebot, schickte dieses
zurück und bekam den Auftrag:
Austausch der defekten Schindeln
des Kirchturms, unter Verwen-
dung der Seilzugangstechnik.
Zuerst war noch einige Vorarbeit
nötig. Während ich die Baustelle
organisierte, Gefährdungsermitt-
lung, Rettungsplan, Personal,
Ausrüstung, Zugangstechnik
usw., kümmerte sich der Kirchen-
pfleger um die neuen Schindeln.
Da diese nicht einfach im Bau-
markt zu bekommen sind, muss-
ten sie von einemZimmerer ange-
fertigt werden.
Als es dann so weit war und ich
mit meinem Kollegen anrückte
undwir die Baustellenabsperrung
fertig hatten, trugenwir das ganze
Equipment hoch und bewun-
derten wieder das Lichtspiel, das
dieses Mal durch den Nebel nicht
so intensiv war wie bei der Erst-
besichtigung.
So, und jetzt nochmals die Frage:
Wie bekomme ich das Seil an die
Kirchturmspitze? An einer Kirch-
turmspitze befinden sich soge-
nannte „Zimmererhacken“ aus
meist 10 – 16 mm dickem Rund-
stahl, geschmiedet zum Hacken.
Für uns Kletterer nicht immer
eine wahre Freude, da man diese
Hacken von der Ausstiegstelle aus
schlecht auf ihre Bruchsicherheit
beurteilen kann. Früher wurden
daran Seile oder Dachleitern ein-
gehängt, an denen sich die mu-
tigsten Zimmerer, teils ohne Ab-
sturzsicherung, bewegten. Und
dennoch war die Bruchsicherheit
des Zimmererhackens an diesem
Kirchturm uninteressant, da die-
ser von der Ausstiegstelle sehr
weit entfernt war. Es war unmög-
lich, diesen Hacken mit einer Te-
leskopstange oder ähnlichem zu
erreichen. Wir mussten uns also
auf andere Art undWeise helfen.
Wir stiegen im Kirchturm so
hochwiemöglich und bohrtenmit
einem Kreisschneider durch die
Holzschalung und die Schindeln,
steckten zwei 11mm Halbstatik-
seile durch und ließen sie bis zur
Ausstiegstelle herab. Oberhalb des
Loches wurden die Seile über eine
Doppelrolle umgelenkt; zumeinen
als Kantenschutz, zum anderen
als Rettungsweg, da wir die Seile
auch innen bis zur Ausstiegsstelle
herabführten, angeschlagen mit
Bandschlingen und I´Ds. Somit
war man in der Lage, denKollegen
von innen beim ersten Aufstieg zu
retten.
MeinKollege installiertemit viel
Geschick Stahlseilringe zum An-
schlagen zweier Seilstrecken;
Beim Industrieklettern sind das
vier voneinander unabhängig an-
geschlagene Seile. Beide Strecken
reichten bis zumBoden – notwen-
dig bei einer Partnerrettung.
Da unser Kirchenpfleger beim
ersten Ausstieg meinte, er wolle
sich die ganze Sache lieber von un-
tern anschauen, konnte er das fol-
gende Seherlebnis wieder nicht
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