Kletterblatt 2012 - page 80

Vorbemerkung
Die nachfolgendenÜberlegungen zumEinsatz heil-
therapeutischen Kletterns für durch Folter schwerst
traumatisierte Klienten beziehen sich in der Haupt-
sache auf
meine Erfahrungen als Gärtner (seit März 98) und
Baumpfleger (seit März 02),
die Berichte der
Festschrift
zum 10jährigen Beste-
hen des Behandlungszentrums für Folteropfer Ber-
lin Das Unsagbare. (
Berlin 2002, hrsg. von A. Birck,
C. Pross und J. Lansen.
Alle Zitate imFolgenden aus
dieser Festschrift; Zitation unter einfacher Angabe
der Autoren und der Seitenzahl)
sowie auf meine Diskussionen mit Herrn Dr. Hans
Keilson, Nervenarzt und Autor der grundlegenden
Studie
Sequentielle Traumatisierung
.
MeinenEntwurf, bzw. meineÜberlegungen zumheil-
therapeutischenKlettern (inBäumen)mit durchFol-
ter schwerst traumatisierten Klienten werde ich im
Folgenden in einemDialogmit den und inAnlehnung
an die in der o. g. Publikation veröffentlichten Erfah-
rungsberichte formulieren.
Exposé
DieFolter beabsichtigt und bewirkt die tiefgreifende,
in der Regel nicht reversible Desorientierung undDe-
stabilisierung der/des Gefolterten, wobei es seitens
der Peiniger angestrebt ist, das familiäre und soziale
Umfeld der/des Gefolterten von dieser Destabilisati-
onmit zu treffen.
In dem Sammelband
Das Unsagbare
wird von den
verschiedenen Autoren immer wieder undmit Nach-
druck auf die retraumatisierende Wirkung der unsi-
cheren und entwürdigenden Aufenthaltsbedin-
gungen von Flüchtlingen in der BRD hingewiesen.
Die hier angesprochene deutsche Flüchtlingspolitik,
die denen, die sich teils unter enormen Strapazen vor
ihren Peinigern nachDeutschland gerettet haben, er-
neut unsägliches Leiden und die Qual der Ungewiss-
heit zumutet, ist mir als Grundbedingung einer mög-
lichen Arbeit mit Folteropfern bewusst.
Bei Pross und Graessner heißt es: „Wie läßt sich die
historisch-kulturelle Dimension vonMuttersprache
der Patienten ins Deutsche vermitteln? ... Wie viel
Baumklettern
als Therapie
Ein Exposé zumheiltherapeutischen Klettern
Durch Folter traumatisierten Menschen könnte mit
heiltherapeutischem Baumklettern geholfen werden.
Das Klettern kann ihnen „in ihrer Selbstwahrnehmung
wieder einen festen Grund unter ihre Füße“ geben,
so Winfried Meyer in seinem Exposé.
Sprache geht Traumatisierten verloren? ... Das Be-
wusstsein von der schwierigen Rolle der ‚dritten Per-
son‘ hat in der VergangenheitWünsche wachgerufen,
zunehmend Therapieformen einzusetzen, die nicht
primär auf Sprache angewiesen sind.“ (Pross/Gra-
essner, S. 10)
In der Bearbeitung des traumatisierenden Erleb-
nisses stellt die Sprache ein zentrales Problemfeld
dar. Dies gilt in jedem Fall, gleich ob der Klient die-
selbe Sprache spricht, wie der Therapeut oder ob ein
Dolmetscher nötig ist. Das traumatisierende Ereignis
raubt dem Opfer (wie auch seinen Angehörigen und
seinemLebensumfeld) die Sprache. Es raubt ihmdie
Ordnung, innerhalb derer Sprache und Sprechen ei-
nen Sinn haben. Ohne dass ich selbst traumatische
Erlebnisse erleiden hätte müssen, meine ich nach-
empfinden zu können, dass mit dem traumatisie-
renden Ereignis das Sprechen mit Menschen grund-
problematisch wird, da die Menschen grundproble-
matisch geworden sind.
Das Klettern als therapeutischer Ansatz in der Ar-
beitmit schwerst traumatisiertenKlienten bedarf der
Sprache nicht: das heiltherapeutische Klettern beab-
sichtigt nicht, das Trauma zu bearbeiten. Anstatt also
das Trauma zu fokussieren, geht es beim heilthera-
peutischenKlettern (hK) – ebensowie bei derMusik-
therapie – im Rahmen eines „nicht pathologiebezo-
genen Verständnisses von Behandlung“ (Oksana
Zharinova-Sanderson, S. 110) um eine „gesundheits-
fördernde Intervention“ (Merkord, S. 146) im Sinne
einer Strategie des empowerments, für die die Spra-
che nicht von besonderer Bedeutung ist.
Das hK ist also vomProblemder Sprache nicht tan-
giert. Zumeinen genügt für die therapeutische Praxis
imExtremfall zweiWorte (‚stop’ ‚go’) und zumande-
ren spielt sich das therapeutische Geschehen nicht
auf der sprachlich/symbolischen, sondern auf der so-
matisch/kognitiven Ebene ab. Zur Rolle des Thera-
peuten unten mehr; hier sei im Zusammenhang mit
dem Problem der Sprache nur angedeutet, dass im
Idealfall das heilende Geschehen unabhängig vom
Therapeuten in der Auseinandersetzung desKlienten
mit sich und seinem (augenlosen) Gegenüber, dem
Baum, abläuft.
Weil mit demhKnicht beabsichtigt ist, das Trauma
zu bearbeiten, ist zu hoffen, dass hier die Probleme
der Entehrung und der Scham(Wenk/Ansohn, S. 60),
bzw. des tabuisierten Unaussprechlichen (Ahmad/
Schöll, S. 104) ‚außen vor‘ bleiben können.
Vonden inder o. g. Festschrift dargelegtenTherapie-
ansätzen ist das hKgutmit der konzentrativenBewe-
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Thema
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