Kletterblatt 2012 - page 82

Philosoph und Baumpfleger
Leipzig
Winfried Meyer
auf die Opfer von Folterverbrechen, besonders auf
zwei Punkte abheben. Die Folter, so hieß es eingangs,
beabsichtigt und bewirkt die tiefgreifende, in der
Regel nicht reversible Desorientierung und Destabi-
lisierung des Gefolterten. Das Klettern vermag dieser
bösartigen Destruktion, deren Irreversibiltät mir be-
wusst ist, neben einem allgemeinen empowerment
zweierlei entgegenzusetzen:
Zum einen stärkt und trainiert das Klettern die ko-
gnitiven Fähigkeiten des Kletternden. Die Anforde-
rung an Konzentration und Koordination beim Klet-
tern sind hoch. Es müssen div. Bewegungsabläufe
kombiniertwerdenmit demEinsatz vonKraft und der
andauerndenOrientierung imund amBaum: wo stel-
le ich jetzt meine Füße wie hin und welche Auswir-
kung hat dies aufmeinenStandpunkt imBaum?Diese
Koordination bezieht sich zunächst auf denMoment,
wird aber im Laufe der Zeit auch ein konzeptionelles
Handeln mit aufnehmen: wenn ich es jetzt geschafft
habe, sicher und bequemzu stehen, wiemuss ich dann
meine nächste Bewegung planen, um mich mit den
Seilen nicht zu verheddern, und eine gute Auf- bzw.
Abstiegsroute zu finden? Das Vertrauen in die eigene
Wahrnehmung wird gestärkt und erfährt mit jedem
Meter eine positive Bestätigung. Die Anforderung an
KonzentrationundKoordination, someineAusgangs-
überlegung, zentriert den Klienten zunächst imHier
und Jetzt, wobei diese Zentrierung, so sie wiederholt
geschieht und trainiert wird, auch auf das Alltagsle-
ben desKlienten abfärben kannund soll. DasKlettern
könnte also einen gewissen Raum von Klarheit und
Koordinationsfähigkeit für denKlienten öffnen.
Weit wesentlicher noch ist ein Effekt, dessen Anti-
zipation ganz am Anfang meiner Überlegungen zum
hK stand. Die Folter strebt an und erreicht die Des-
orientierung des Gefolterten. Das Klettern hat den
gegenteiligen Effekt: Es orientiert den Kletternden.
Es orientiert ihn in der Wahrnehmung zunächst des
eigenen Körpers. Der Kletternde erfährt sich durch
das Klettern vermittels des eigenen Körpers als eine
Einheit. Das Klettern, someine Ausgangsvermutung,
die auf ausgiebiger eigener Klettererfahrung beruht,
gibt dem Kletternden in seiner Selbstwahrnehmung
wieder einen festenGrund unter die Füße (undmacht
ihn, nebenbei gesagt, hungrig).
Hierbei ist es wesentlich, dass dieser Grund vom
Kletternden und dem Baum gelegt wird. Der Bildung
eines vollständigen Misstrauens gegenüber allen
menschlichenWesen, diemit der Foltererfahrung ein-
hergehenmuss, ist zubegegnenmit einerTherapie, die
demKlienten eine Selbsterfahrung an die Hand gibt,
die der Vermittlung durch andere Menschen nicht,
bzw. allenfalls imSinne einer Anleitung bedarf.
Nachmeiner Erfahrung kann jederMensch imAlter
von ca. fünf bis sechzig Jahren, der nicht durch ein
besonderes Handicap gehindert ist, mit der Doppel-
seiltechnik klettern lernen. Für therapeutische
Erfolge ist eine einigermaßen regelmäßige und kon-
tinuierliche Praxis notwenig. Nur diese kann ge-
währleisten, dass die Erfolge, die sich beimKlettern
einstellen (werden) beim Klienten habituellen Cha-
rakter gewinnen.
Bei Weber heißt es: „Posttraumatische Folgen und
Bewältigungsversuche binden bei Klienten viel En-
ergie, die zum Leben fehlt. Daher sind alle Hinwen-
dungen zum Leben, zur Aktivität und Eigenverant-
wortlichkeit zu unterstützen. Über die ... Neugewin-
nung von Fähigkeiten und Ressourcen werden
Selbstheilungskräfte mobilisiert, die traumatische
Ereignisse teilweise ihren Schrecken verlieren las-
sen.“ (Weber, S. 220)
Das Klettern stellt eine solche, von Weber gefor-
derte Hinwendungen zum Leben, zur Aktivität und
Eigenverantwortlichkeit dar. Die von mir anvisierte
Therapieform ist vergleichbar mit der Musikthera-
pie, wie sie von Frau Oksana Zharinova-Sanderson
dargelegt wurde. Sicherlich wird auch beimKlettern
der Therapeut mit dem Klienten ein möglichst har-
monisches Zusammenspiel zu ereichen bemüht sein
müssen; die Hauptaufgabe der Therapie wird jedoch
darin bestehen, den Klienten über die Neugewin-
nung vonRessourcen in Stand zu setzen, sein eigenes
Spiel zu spielen.
Sergej, der Junge, dessenVerfolgungs- undTherapie-
geschichte FrauWaitzmann-Samulowski schildert,
scheint mir ein Beispiel zu sein für einen Fall, bei
dem das Klettern Erfolg versprechend zur Therapie
eingesetzt werden könnte. Die Brücke oder das Seil,
das er der Therapeutin gegenüber erwähnt (Waitz-
mann-Samulowski, S. 200), könnte ein Kletterseil
werden; beim Klettern könnte sich Sergejs äußerste
Anspannung und Verkrampfung (ebd., S. 188) lösen.
„Sergej wirkt nach den fünf vorgeschalteten probato-
rischen Sitzumgen dissoziiert, als sei er zurückgetre-
ten von der Realität, als habe er keinen Zugang zu der
Welt um sich herum“ (ebd.)
Das hK könnte Sergej – imRahmen eines längerfri-
stigenTrainings – über die Erfahrung seiner Selbst in
der Auseinandersetzung mit dem Baum einen neuen
Zugang zu sichund inder Folge zu derWelt umihnhe-
rumöffnen. ZudemobenAusgeführtenkäme fürSergej
hinzu, dass dasKlettern in der Zeit der Adoleszenz ei-
nen Halt, bzw., eine positive Erprobung des eigenen
Körpers und der eigenenFähigkeiten bieten könnte.
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KletterTherapie
Thema
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