Kletterblatt 2008 - page 87

Thema
Muskeln über lange Zeit hin
nicht aktivieren, kann unser
Nervensystem ganz einfach
„vergessen“, dass es diese
Muskeln gibt.
So entzieht sich ein Teil
unserer Skelettmuskulatur der
bewussten Kontrolle. Dabei
können gewohnheitsmäßige
Muskelverspannungen her-
vorgerufen werden, die wir
nicht entspannen können
und die mit der Zeit vollkom-
men unwillkürlich und unbe-
wusst werden. Mit der Zeit
„weiß“ unser Nervensystem
schließlich nicht mehr, wie er
die Muskeln entspannen oder
überhaupt frei bewegen kann.
Das Ganze folgt dem Prinzip
„die Funktion erhält die
Struktur“. So wie Bäume mit
dem Reaktionsholz ihren Holz-
körper an Belastungen anpas-
sen, so macht das unser Kör-
per und seine „Steuereinheit“,
das zentrale Nervensystem.
Durch die lebenslange An-
passungs- und Lernfähigkeit
unseres Nervensystems kann
Vergessenes jedoch auch wie-
der erlernt werden. Wir kön-
nen also unser Nervensystem
durch bestimmte Übungen
und Methoden wieder neu
vernetzen und gesündere
und effektivere Bewegungs-
muster wieder erlernen. Dies
erfordert jedoch Geduld, da
alte Bewegungsabläufe nicht
einfach ersetzt werden kön-
nen, sondern durch neue Ver-
netzungen ergänzt werden.
Dies ist ein langsamer, dafür
allerdings nachhaltiger Verän-
derungsprozess.
Dabei kommt es nicht so
sehr darauf an, nur die Mus-
keln, sondern vor allem die
sensorische Seite zu trainieren:
Bewegung wahrnehmen und
fühlen. Aufmerksamkeitsauf-
bau statt Muskelaufbau. Am
besten in einem Rahmen, in
dem die Aufmerksamkeit nicht
für anderes wie Organisation
der Baustelle, Kommunikation
oder Zeitdruck benötigt wird.
Nehmen wir als Beispiel
den seitlichen Sägemuskel. Er
bildet eine große Muskelde-
cke, die vom Schulterblatt
unter dem Arm hindurch
nach vorne zum seitlichen
Brustkorb verläuft, an den
oberen 9 bis 10 Rippen an-
setzt und somit Schulterblatt
mit Rippen verbindet. Ein
bisschen erinnert seine Form
an eine Hand, die mit ihren
Fingern um den Brustkorb
herum reicht. Er zieht das
Schulterblatt an die Rippen
heran und lässt es darauf
gleiten, je nach Position des
Armes. Der Sägemuskel ist
somit wichtig für die Stabili-
tät im Schultergürtel beim
Heben des Armes oder beim
Wegdrücken gegen einen Wi-
derstand … und könnte somit
im Alltag oft zum Einsatz
kommen. Theoretisch.
Wir haben uns jedoch oft
angewöhnt, zuerst die
Schultern etwas
hochziehen, bevor
wir eine Bewegung
mit dem Arm ma-
chen. Dadurch glei-
tet das Schulterblatt
nach oben, Richtung Kopf,
wodurch das Schultergelenk
instabil wird. Anatomisch
richtig wäre es, wenn zuerst
der Sägemuskel aktiv wird,
dieser das Schulterblatt nach
unten zieht und dann die Be-
wegung ausgeführt wird.
Mit zwei kleinen Übungen
kommen wir diesem Muskel
auf die Spur:
Versuche dabei, Deine Aufmerk-
samkeit auf das zu legen, was in
Deinem Körper passiert, vor allem
im Schulterbereich und im Rü-
cken. Welche Muskeln spannen
sich an? Welche geben nach? Wo
spürst Du mehr Spannung? Wo
fühlt es sich gut an, warm, an-
gestrengt, verkrampft … ? Ver-
suche Deine Aufmerksamkeit so
fein und offen zu halten, wie es
Dir gerade möglich ist und nimm
wahr, was da ist, ohne es zu be-
werten. Am besten Du stellst Dich
vor einen Tisch, ein leeres Glas
oder einen anderen leichten Ge-
genstand in greifbarer Nähe. Hebe
nun das Glas langsam mit leicht
gestrecktem Arm ein paar Mal, bis
der Arm ungefähr waagerecht ist.
Stelle es wieder ab, ohne weiter
darüber nachzudenken. Wieder-
hole die Bewegung ein paar Mal,
auch mit dem anderen Arm. Fo-
kussiere Deine Aufmerksamkeit
auf das, was Du beim Bewegen in
Deiner Schulter und Deinem Rü-
cken wahrnehmen kannst.
Nun zieh die Schulter Richtung
Ohr, so dass Du im Schultergürtel
auf dieser Seite enger wirst und
hebe das Glas ein paar Mal mit
diesem Arm auf. Das
ist ein bisschen
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