Kletterblatt 2012 - page 41

Baumpflege
Praxis
auf den Gedanken, dass es die absolut falsche Schnitt-
zeit war und der vermeintliche Retter und Fachmann
denUntergang unwissentlichherbeigeführt hat.
Wenn ich Berichte in Fachzeitschriften richtig deu-
te, passiert das häufiger als man denkt. Doch leider
wird das Absterben nicht der falschen Schnittzeit zu-
geordnet, sondern darauf, dass der Baum eben
schwach sei und die Maßnahme zu spät gekommen
sei. Hat sich schon mal jemand gefragt, warum Bäu-
me 200 Jahre werden und jahrzehntelang mit
Schwachstellen leben und immer dann, wenn Baum-
pfleger zuHilfe eilen und rettende Baumschnittmaß-
nahmen durchführen der Baum in kurzer Zeit
abstirbt oder nach wenigen Jahren zur Fällung frei-
gegeben werden muss? Stirbt der Baum, heißt es
dann: „trotz“ der Maßnahme ist der Baum abgestor-
ben, er war schon zu schwach oder die Maßnahme
kamzu spät. Ich vermute aber, es könnte häufig gerade
„wegen“ der Maßnahme passiert sein, weil sie zur
falschen Zeit durchgeführt wurde. Baumpfleger als
unfreiwillige Sterbehelfer.
Sommerschnitt bremst Austrieb im Frühjahr
Wenn ich in Kursen davon rede, dass Sommer-
schnitt den Austrieb im Frühjahr bremst, folgern
viele sofort, dass man starken Austrieb nach dem
Schnitt bei stark treibendenBäumenmindern könnte
mit Sommerschnitt. Wer die Reservestoffeinlage-
rung mindert, mindert das Austriebspotential im
Frühjahr. Das ist richtig. Es muss aber trotzdem da-
vor gewarnt werden, durch Sommerschnitt stark-
wüchsige Bäume imWuchs zu bremsen. Denn eswird
nicht nur das Austriebspotential imFrühjahr gemin-
dert, sondern Bäume werden bei starkem Schnitt im
Spätsommer immer auch geschwächt. Junge Bäume
mögen das im Laufe der Zeit wieder kompensieren,
aber eine Schädigung ist es allemal. Ich rate davon ab,
denn es gibt andere unschädlichere Möglichkeiten
durch spezielle Schnittmaßnahmen den Wuchs zu
bremsen. Ich habe Gesetzmäßigkeiten entdeckt, die
es ermöglichen, durch speziellen Schnitt denTrieb so
zu steuern, dass der Baumsich gesund entwickelt und
kräftigt, jedoch in der Höhe langsamentwickelt. Die-
se Gesetzmäßigkeiten werde ich zu späterer Zeit zu
Papier bringen und veröffentlichen.
Mein Appell
Eigentlich ist schon sehr viel Wissen bekannt. Es
muss lediglich für die Baumpflege hervorgeholt und
in die Baumpflege eingebunden werden. Deshalb ap-
pelliere ich an Professoren und Diplomanden oder
Master-Studenten, sichtet die Literatur und tragt das
schon vorhandeneWissen über die Baumphysiologie
in den einzelnen Vegetationsstadien zusammen! Es
wird Zeit, dass wir mehr über Auswirkungen von
Schnittmaßnahmen zu bestimmten Vegetations-
zeiten auf die Baumphysiologie und die Reaktion des
Baumes auf den Schnitt erfahren. Das Thema
Schnittzeit darf nicht länger stiefmütterlich behan-
delt oder ignoriert werden. Schnittmaßnahmenmüs-
sen immer in Zusammenhang mit der Zielsetzung
und der Schnittzeit betrachtet werden!
Mein Anspruch an einen Baumexperten:
Der Baumpfleger oder Baumexperte soll bei be-
kannter Zielsetzung die optimale Schnittzeit für den
betreffenden Baum kennen und auch die physiolo-
gischen Gründe dafür. Sollte der Zeitraum nicht frei
wählbar sein, muss er in der Lage sein, den Schnitt so
anzupassen, dass unter den gegebenen physiolo-
gischen Bedingungen zur jeweiligen Schnittzeit und
unter Berücksichtigung des Zustands und der Art des
Baumes das vorgegebene Ziel der Schnittmaßnahme
möglichst optimal und vorhersagbar herbeigeführt
werden kann. Baumpfleger sollten Fachkenntnisse
haben, d.h. sie sollten nicht nur Rezepte kennen, son-
dern auch die Hintergründe, und sie sollten vorher-
sagen können, welchen Einfluss ihr Tun auf die wei-
tereEntwicklung und dieReaktionen des Baumes hat.
Ausblick
Die Schnittzeit ist nicht das einzige vernachlässigte
Thema mit Auswirkungen auf die Reaktionen des
Baumes auf den Schnitt. Nurwenige „Schnittgesetze“
sind bekannt und werden in der Literatur genannt. In
meiner langjährigen intensivenArbeit (Baumschnitt)
konnte ich zahlreiche, in Büchern noch nicht veröf-
fentlichte Einflussfaktoren herausfiltern. Sie ermög-
lichen z.B., Wasserschosse auch bei starken Schnitt-
eingriffen zu verhindern. DieseErkenntnisse habe ich
in den letzten Jahren in meinen Obstschnittkursen
weitergegeben. Ich hoffe, es ist mir zeitlich irgend-
wann möglich, diese Erkenntnisse, Theorien und
Hypothesen aus der Praxis heraus entwickelt, aufzu-
bereiten und durch Veröffentlichung einem breiteren
Fachkreis zur Diskussion stellen zu können.
Johannes Bilharz
startete 1977 damit, Obstbäume zu
schneiden, was er viele Jahre haupt-
gewerblich praktizierte. Über die Arbeit
in Gärten von Privatkunden wurde
schnell auch Strauch- und Baumschnitt
zumThema. Baumschnitt ist seither seine
Leidenschaft. Dabei beschäftigte ihn immer die
Frage, was die Bäume „im Innersten zusammen-
hält“ und auch die Frage, wie man über Schnitt
Baumwuchs lenken oder Reaktionen des Baumes
beeinflussen kann. Die Gunst, gleiche Bäume
über viele Jahre schneiden zu können (die
längste Versuchsreihe dauert schon 32 Jahre)
nutzt er für seine praktischen Studien.
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