Kletterblatt 2009 - page 95

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Thema
Manchmal braucht es etwas
Glück, um Ungewöhnliches er­
leben zu können, z. B. eine
Nacht im Portaledge. Mitte
September 2008 trafen sich die
fünf glücklichen Gewinner des
„Senkrechtschlafer“-Gewinn­
spiels der Zeitschrift „Alpin“
auf dem Parkplatz der Braun­
eckbahn in Lenggries, um nach
allen Regeln der Kunst in einer
Wand zu übernachten. Mit den
Zweifeln über Sinn und Zweck
solcher Aktionen kam ER: Tom
Tivadar, ein international füh­
render Bigwallspezialist, der
uns sozusagen über Nacht in
die Geheimnisse des Porta­­-
­le­dgelebens einweisen sollte.
Und mit ihm kam das Gepäck.
In seinem Auto stapelten sich
mehrere Haulbags mit jeweils
über 100 l Volumen, prall ge­
füllt mit Klettermaterial. Die
Gesamtlänge seiner Seile er­
reichte Kilometerdimensionen.
Nach der Materialausgabe ging
es komfortabel mit der Braun­
eckbahn bis auf 1520 m. Schon
in der Bahn zeigten sich aber
die spezifischen Probleme der
Bigwaller. In den engen Gon­
deln und erst recht auf dem
daran folgenden eineinhalb­
stündigen Marsch zur Wand
wurde klar, warum das Haul­
bag in Fachkreisen „pig“ ge­
nannt wird.
Am Wandfuß angekommen
gab es von Tom eine Einfüh­
rung in die wichtigsten Bigwall­
techniken und Lektionen über
den Aufstieg am Seil. Was für
den SKT-anwendenden Baum­
pfleger eine Selbstverständlich­
keit ist, stellt für den Sportklet­
terer im besten Fall eine Neu­
heit, im schlechtesten Fall ein
Sakrileg dar. Denn wer am Seil
aufsteigt, hat Trittleitern, und
wer Trittleitern hat, benutzt sie
auch zur Fortbewegung und
klettert somit technisch! Tom
klettert gerne technisch und
dies in extremster Form. Die
Erstbegehung von „Highway to
Hell“ am El Capitan im Yose­
mite Valley belegt dies ein­
drucksvoll. Die erste Seillänge
beispielsweise ist so strukturlos,
dass bis zum Standplatz keine
einzige sturzhaltende Siche­
rung untergebracht werden
kann! Im Anschluß an die Er­
zählungen aus solchen gruse­
ligen Routen folgten als Finale
die Ausführungen, wie Männ­
lein und Weiblein in der Wand
zu pinkeln hätten und was
dabei tunlichst zu vermeiden
sei. Einleuchtende Beispiele
rundeten das Thema ab.
Unter diesen Eindrücken wur­
den dann die Portaledges mon­
tiert. In weiser Voraussicht ob
des Zustands einiger Ledges,
der zurückhaltend mit stark ge­
braucht umschrieben werden
kann, vorsichtshalber am Bo­
den. Nur unter vollem Einsatz
zweier Körpergewichte und
kräftigem Fluchen ließen sich
die betagten Portaledges zu­
sammenbauen. Man stelle sich
dies inmitten einer großen Wand
bei beginnendem Sturm vor.
Nach vollbrachtem Zusammen­
bau wird an den zuvor fixierten
Seilen zu den Ständen aufge­
stiegen und der Schlafplatz ein­
gerichtet. Interessant wird es,
die Isomatte in das Portaledge
zu legen, während man selber
darauf sitzt. Um diesen Vor­
gang erfolgreich auszuführen,
ist insbesondere von länger ge­
ratenen Bergsteigern ein er­
höhtes Maß an Beweglichkeit
und Geschicklichkeit gefordert,
da der Platz zum hantieren
doch arg begrenzt ist und ein
falsch belastetes Portaledge
einfach umkippt. Nachdem die
Isomatte liegt, gilt es denselben
Kampf mit dem Schlafsack aus­
zufechten. Dass diese Übung
auf Toms Ultralightweightpor­
taledges nicht ohne Verluste
einhergeht, war abzusehen:
zwei gebroche Portaledges.
Zur Nacht selbst lässt sich
wenig sagen, da alle Teilneh­
mer seelenruhig in ihren war­
men Schlafsäcken bis zum Mor­
gen durchschliefen. Im Gegen­
satz zu den spitzen Felsen in
lausigen ungeplanten Biwaks
ist ein Portaledge, wenn man
sich darauf erstmal eingerichtet
hat, äußert komfortabel.
Die absolute Sensation ist aller­
dings der Morgen. Nach dem
ersten skeptischen Blick in die
Tiefe folgt der Blick in den Son­
nenaufgang und der ist aus die­
ser Perspektive einfach unver­
gleichlich. Kaum eine andere
Schlafstätte erlaubt es einem,
so direkt an der Natur teilzuha­
ben. Als Abschluss dieser gran­
diosen Nacht gibt es zum Früh­
stück ein zünftiges Rührei, frisch
zubereitet aus gefriergetrock­
netem Eipulver. Insgesamt hat
die Unternehmung kräftig Ap­
petit auf mehr gemacht, wenn
auch nicht auf mehr von dem
Rührei…
Martin leberecht
M.Sc. Forstwissenschaften
und Waldökologie,
Büroleiter der
Münchner Baumkletterschule
Der Autor
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