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kletterblatt
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Thema
Manchmal braucht es etwas
Glück, um Ungewöhnliches er
leben zu können, z. B. eine
Nacht im Portaledge. Mitte
September 2008 trafen sich die
fünf glücklichen Gewinner des
„Senkrechtschlafer“-Gewinn
spiels der Zeitschrift „Alpin“
auf dem Parkplatz der Braun
eckbahn in Lenggries, um nach
allen Regeln der Kunst in einer
Wand zu übernachten. Mit den
Zweifeln über Sinn und Zweck
solcher Aktionen kam ER: Tom
Tivadar, ein international füh
render Bigwallspezialist, der
uns sozusagen über Nacht in
die Geheimnisse des Porta-
ledgelebens einweisen sollte.
Und mit ihm kam das Gepäck.
In seinem Auto stapelten sich
mehrere Haulbags mit jeweils
über 100 l Volumen, prall ge
füllt mit Klettermaterial. Die
Gesamtlänge seiner Seile er
reichte Kilometerdimensionen.
Nach der Materialausgabe ging
es komfortabel mit der Braun
eckbahn bis auf 1520 m. Schon
in der Bahn zeigten sich aber
die spezifischen Probleme der
Bigwaller. In den engen Gon
deln und erst recht auf dem
daran folgenden eineinhalb
stündigen Marsch zur Wand
wurde klar, warum das Haul
bag in Fachkreisen „pig“ ge
nannt wird.
Am Wandfuß angekommen
gab es von Tom eine Einfüh
rung in die wichtigsten Bigwall
techniken und Lektionen über
den Aufstieg am Seil. Was für
den SKT-anwendenden Baum
pfleger eine Selbstverständlich
keit ist, stellt für den Sportklet
terer im besten Fall eine Neu
heit, im schlechtesten Fall ein
Sakrileg dar. Denn wer am Seil
aufsteigt, hat Trittleitern, und
wer Trittleitern hat, benutzt sie
auch zur Fortbewegung und
klettert somit technisch! Tom
klettert gerne technisch und
dies in extremster Form. Die
Erstbegehung von „Highway to
Hell“ am El Capitan im Yose
mite Valley belegt dies ein
drucksvoll. Die erste Seillänge
beispielsweise ist so strukturlos,
dass bis zum Standplatz keine
einzige sturzhaltende Siche
rung untergebracht werden
kann! Im Anschluß an die Er
zählungen aus solchen gruse
ligen Routen folgten als Finale
die Ausführungen, wie Männ
lein und Weiblein in der Wand
zu pinkeln hätten und was
dabei tunlichst zu vermeiden
sei. Einleuchtende Beispiele
rundeten das Thema ab.
Unter diesen Eindrücken wur
den dann die Portaledges mon
tiert. In weiser Voraussicht ob
des Zustands einiger Ledges,
der zurückhaltend mit stark ge
braucht umschrieben werden
kann, vorsichtshalber am Bo
den. Nur unter vollem Einsatz
zweier Körpergewichte und
kräftigem Fluchen ließen sich
die betagten Portaledges zu
sammenbauen. Man stelle sich
dies inmitten einer großen Wand
bei beginnendem Sturm vor.
Nach vollbrachtem Zusammen
bau wird an den zuvor fixierten
Seilen zu den Ständen aufge
stiegen und der Schlafplatz ein
gerichtet. Interessant wird es,
die Isomatte in das Portaledge
zu legen, während man selber
darauf sitzt. Um diesen Vor
gang erfolgreich auszuführen,
ist insbesondere von länger ge
ratenen Bergsteigern ein er
höhtes Maß an Beweglichkeit
und Geschicklichkeit gefordert,
da der Platz zum hantieren
doch arg begrenzt ist und ein
falsch belastetes Portaledge
einfach umkippt. Nachdem die
Isomatte liegt, gilt es denselben
Kampf mit dem Schlafsack aus
zufechten. Dass diese Übung
auf Toms Ultralightweightpor
taledges nicht ohne Verluste
einhergeht, war abzusehen:
zwei gebroche Portaledges.
Zur Nacht selbst lässt sich
wenig sagen, da alle Teilneh
mer seelenruhig in ihren war
men Schlafsäcken bis zum Mor
gen durchschliefen. Im Gegen
satz zu den spitzen Felsen in
lausigen ungeplanten Biwaks
ist ein Portaledge, wenn man
sich darauf erstmal eingerichtet
hat, äußert komfortabel.
Die absolute Sensation ist aller
dings der Morgen. Nach dem
ersten skeptischen Blick in die
Tiefe folgt der Blick in den Son
nenaufgang und der ist aus die
ser Perspektive einfach unver
gleichlich. Kaum eine andere
Schlafstätte erlaubt es einem,
so direkt an der Natur teilzuha
ben. Als Abschluss dieser gran
diosen Nacht gibt es zum Früh
stück ein zünftiges Rührei, frisch
zubereitet aus gefriergetrock
netem Eipulver. Insgesamt hat
die Unternehmung kräftig Ap
petit auf mehr gemacht, wenn
auch nicht auf mehr von dem
Rührei…
Martin leberecht
M.Sc. Forstwissenschaften
und Waldökologie,
Büroleiter der
Münchner Baumkletterschule
Der Autor