kletterblatt 2015
86
finden zu können. So ausgerüstet nahm ich die Bäume in
Angriff. Die Blicke der Touristen verrieten, dass sie mich
nicht ganz einordnen konnten. Das Zielen auf Äste in 20
bis 32MeternHöhe durch teilweise dichte Vegetationwar
schon eine Herausforderung, die noch gesteigert wurde,
wennMückenvonallenSeiten ihreChance auf eine saftige
Blutmahlzeit witterten. Die dichte Vegetation zwischen
mir und dem angepeilten Ast sowie der teilweise dichte
Epiphytenbewuchs des Zielastesmachtendie Sicherheits-
einschätzung vom Boden aus selbst mit einem Fernglas
meist unmöglich. Wenn nach vielen schweißtreibenden
Versuchen und Mückenstichen der Pfeil über den ge-
wünschtenAst flog, war ichmanchmal einen Schritt wei-
ter. Öfter aber doch nicht, denn die vielen Epiphyten be-
wirkten, dass sich die Angelschnur oder die Zugschnur in
das Pflanzendickicht hineinfraß.Wie sich der kletterkun-
dige Leser denken kann, war das Spiel noch nicht zuEnde,
denn das Kletterseil musste ebenfalls solche Stellen pas-
sieren. Wegen der schwierigen Sicherheitseinschätzung
war der Erstaufstieg immer eine sehr spannende Sache.
Insgesamt hatte ich mit brüchigen Äs-
ten oder Wespen nie Probleme. Bienen
hingegen waren häufig und teilweise
aggressiv. Glücklicherweise handelte es
sich fast immer umStachellose Bienen,
so dass die Angriffe an sich nicht wirk-
lich gefährlich, aber dennoch sehr un-
angenehmwaren. Viele derArtenhaben
Nester in Baumhöhlen oder in alten
Termitennestern und einige Arten sind
sehr angriffslustig. Sie kommen schein-
bar aus dem Nichts, krabbeln in sämt-
liche Körperöffnungen, verbeißen sich
inHaut undHaaren. Auchwenn ich den
Angriff von einigen zig Bienen problem-
los aussitzen konnte, entschied ichmich bei schwerenAn-
griffen doch für den Rückzug. Sicherheitsrelevante Pro-
bleme können eher aus überstürztenReaktionen des Klet-
terers bei einem solchen Angriff resultieren. Zum Glück
waren nur zwei meiner Bäume betroffen und nachts stell-
te sich dieses Problemnicht. Amvorläufigen Ankerpunkt
angekommen, nutzte ich das umlaufende Doppelseil, um
einen besserenAnkerpunkt zu suchen. DieVielfalt anEpi-
phyten auf manchen Bäumen ist enorm. Da sind kleine
Flechten und Orchideen, Moospolster, riesige Kletter-
pflanzen, Kakteen und Bromelien, von handlich klein bis
spagatgroß. Und schon gingmeine Fantasiemitmir durch:
Welche Tiere hier wohl hausen mochten? Andere Bäume
hatten wiederum kaumEpiphyten. Der Surá-Baum (Ter-
minalia oblonga) beispielsweise wirft regelmäßig seine
Borke in langenStreifen abund damit alles, was daranhaf-
tet. Die neue Borke hat einen feinen pulverigen Überzug,
was das Anhaftenwohl erschweren dürfte. BeimKlettern
am Tag bekam ich manchmal Besuch von neugierigen
Brüllaffen und kurz vor dem Sonnenuntergang suchten
Amazonen-Papageien lautstark krei-
schend ihre Ruheplätze auf, während aus
der Ferne ein Gewitter nahte.
Regenwald frisst Material
Nachdem alle Bäume vorbereitet waren,
konnte die Forschung beginnen. Die
Nacht ist eine faszinierende Zeit im tro-
pischen Regenwald. Das Licht der Stirn-
lampe leuchtet nur einen kleinenTeil des
Gesichtsfeldes aus, jenseits des Lichtke-
gels liegt das Unbekannte und die ande-
ren Sinne versuchen, die Augen zu erset-
zen. Überall piept, zirpt oder quietscht
ABB 3
ABB 4