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Mit Respekt vor den Opfern – Schwierige und einfühlsame Baumpflege in Gurs

Die Anfang der 60er Jahre auf der Gedenkstätte in Gurs (Frankreich) gepflanzten Bäume waren in der Folge vernachlässigt worden, weshalb die Sicherheit der Besucher nicht mehr gewährleistet war. Deshalb war jetzt eine umfassende Pflege notwendig geworden. Peter und Michael Schmeller organisierten für diese aufwendige und diffizile Pflegeaktion ein Team von Baumkletterern. Ein Bericht von Peter Schmeller.

Als im Frühjahr 2010 die Anfrage der Stadt Karlsruhe kam, ob wir Interesse an der Pflege und Fällung von Großbäumen auf einer Gedenkstätte in Südfrankreich hätten, waren mein Bruder und ich sofort begeistert. Die Vorfreude auf einen Arbeitseinsatz in einer Gegend, wo man sonst üblicherweise Urlaub macht, war groß. Nach den ersten Recherchen zu Gurs wich die Vorfreude schnell einer gewissen Beklemmung. Wir spürten, das würde nicht einfach irgendein Auftrag mit Urlaubsfeeling werden. Je mehr wir uns über die Geschichte dieses Lagers informierten, desto größer wurde unsere Betroffenheit. Auch aufgrund der Geschichte des Lagers hielten wir es für angemessen, dieses Projekt in Zusammenarbeit mit französischen Kollegen durchzuführen. Über Bekannte von Baumklettermeisterschaften kamen wir mit Kollegen aus Pau in Kontakt.

Im Herbst 2010 reisten mein Bruder und ich zur Angebotserstellung nach Gurs. Herr Unger, Leiter der Baumpflege beim Gartenbauamt in Karlsruhe, hatte schon bei einer Untersuchung festgestellt, dass 100 Großbäume gepflegt und 30 durch stückweises Abtragen gefällt werden mussten. Nur so konnte die Verkehrssicherheit für die Besucher auf dem Gelände der Gedenkstätte wieder hergestellt werden. Bei vielen Bäumen war der Einsatz der Seilklettertechnik die einzig mögliche Zugangstechnik; bei einigen Bäumen war der Einsatz einer Hubarbeitsbühne aufgrund des Schadensausmaßes an den Bäumen unumgänglich, bei den meisten konnte man aber beide Arbeitsweisen kombinieren. Der überwiegende Teil der Arbeiten (vor allem im Friedhofsbereich) hatte technisch gesehen den höchsten Schwierigkeitsgrad, da die ca. 1000 Gedenksteine mit darauf liegenden Kieseln der Angehörigen auf keinen Fall geschädigt bzw. bewegt werden sollten.

Uns war schnell klar, dass wir hier eine anspruchsvolle und umfangreiche Aufgabe vor uns hatten: Technische Probleme, wie schwierige Arbeiten in den Sumpfeichen, der Zugang zu den am Rande stehenden Bäumen, oder auch die Frage nach dem Schutz der Gedenksteine, auf die Angehörige der Opfer nach jüdischer Sitte kleine Steine gelegt hatte, waren zu lösen. Eine Logistik für die Entsorgung war aufzubauen und wir mussten mit der dramatischen Geschichte dieses Geländes klarkommen, was nicht einfach war.

Dann war da noch das Wetter. Bei unserem ersten Besuch regnete es in Strömen. Das Wetter würde wohl die große Unbekannte bei der Kalkulation sein. Gurs hat zwar nicht mehr Regentage als im Rheintal, jedoch die doppelte Niederschlagsmenge. Und da gab es noch die steuerrechtliche Seite dieses Projektes: Umsatzsteuer, franz. UstIDNR, franz. Steuerberater! Dazu waren lange Recherchen nötig und es gab teure Antworten. Aber nach fast zwei Jahren war dieses Problem auch gelöst.

Für den Aufbau und die Organisation einer Logistik sowie für die Kommunikation mit den Menschen vor Ort sollten die französischen Kollegen zuständig sein. Bei den französischen Baumklettermeisterschaften in Strasbourg trafen wir uns noch einmal, um uns auf den Angebotspreis zu verständigen.

Dann dauerte es mehr als ein Jahr, bis der überraschende Anruf mit der Frage kam, ob unser Angebot so noch gelten würde. Leider war das für die französischen Kollegen nicht der Fall, weshalb die Basis für eine Zusammenarbeit nicht mehr vorhanden war. Leider. Nachdem uns Vertreter der Stadt Karlsruhe ihre Unterstützung zugesagt hatten, nahmen wir den Auftrag an.

Bei den im Frühjahr alljährlich stattfindenden Gedenkfeierlichkeiten in Gurs konnten wir dann in einem Gespräch mit Bürgermeister Costemalle von Gurs, mit Hilfe von Herrn Augenstein, dem Leiter des Hauptamtes der Stadt Karlsruhe, viele offene Probleme lösen. So wurde z. B. mit den angrenzenden Grundstückseigentümern geklärt, wie die Felder als Zugangs- und Entsorgungswege genutzt werden konnten. Außerdem kalkulierten wir nochmals alle Bäume und besprachen mögliche Vorgehensweisen.

Nachhaltig beeindruckend war bei dieser Veranstaltung aber der Kontakt zu den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Vor allem waren es die Schilderungen von Paul Niedermann, einem der letzten Zeitzeugen, die uns sehr betroffen gemacht hatten.

Quasi im letzten Moment dieser Reise lernten wir noch zwei junge Kollegen aus der Gegend kennen. Dies sollte sich als sehr glücklich erweisen, da sie uns maßgeblich bei der Lösung einiger Probleme halfen und sich überdies als gute Kollegen und sehr angenehme Menschen erwiesen.

Jetzt galt es, ein Team aufzustellen. Fast jeder Kletterer, der davon erfuhr, bekundete spontan seine Bereitschaft mitzumachen, weshalb wir die Qual der Wahl hatten. Sorry an alle, die wir nicht mitnehmen konnten. Schließlich hatten wir ein 15-köpfiges Team, bestehend aus süddeutschen Spezialisten, den zwei französischen Kollegen sowie Mathias Schmitt vom Gartenbauamt Karlsruhe.

Einige Probleme waren immer noch zu klären und so fuhr Michael noch zweimal nach Gurs. Für zwei Dinge fanden wir erst kurz vor Beginn eine Lösung: Ein Haus, in dem wir wohnen und gleichzeitig die Wohnmobile untergebracht werden konnten und eine geeignete Hubarbeitsbühne. Diese war notwendig, weil einige Bäume bereits nicht mehr kletterbar waren und sinnvoll, weil die Arbeit mit der Hubarbeitsbühne in Kombination mit Kletterern oft der effizientere und sichere Weg war.

In Frankreich sind vor allem Selbstfahrer ohne Stützen zu bekommen, die für unsere Zwecke ungeeignet waren, da wir von den angrenzenden Feldern aus damit arbeiten mussten. Hubarbeitsbühnen, wie wir sie kennen, enden in diesem Teil des Landes bei 20 m Höhe. Und das zu einem sündhaft teuren Preis. Nachfragen bei französischen Verleihfirmen waren langwierig und endeten allesamt enttäuschend. Auch Anfragen bei deutschen Firmen verliefen „Da muss ich mal nachfragen, ich melde mich …“ im Sande. Einzig die Firma Becker war bereit, uns eine Hubarbeitsbühne (dreieinhalb Tonnen, 27 Meter) zur Verfügung zu stellen. Der Haken daran war allerdings, dass wir das Fahrzeug hin- und wieder zurückfahren mussten. Jeweils eine 20-Stunden TorTour.

Ende September war es dann endlich soweit. Wir hatten diese Zeit gewählt, weil dann in der Regel stabiles Wetter vorherrscht. Allerdings hatte es dort bei teilweise mehr als 40 Grad zweieinhalb Monate nicht geregnet und die übliche unruhige Wetterphase Ende August war ausgeblieben. Prompt setzte dann in der Woche vor der Anreise Regen ein. Noch in der Nacht vor Arbeitsbeginn regnete es. Aber pünktlich zum Beginn war es trocken und wir hatten in den folgenden zwei Wochen nur einen halben Tag lang nasse Bäume. Auch das Befahren der Felder war kein Problem.

Wir hatten den Auftrag bekommen, weil die Stadt Karlsruhe uns zutraute, die Arbeiten fachgerecht und ohne Schäden zu verursachen, durchführen zu können. Vor allem im Friedhofsbereich war das eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Die Mitte der sechziger Jahre gepflanzten Bäume waren inzwischen zu richtigen Riesen herangewachsen. An den Gleisanlagen gab es einige gekappte und dann vergessene Bäume. Der überwiegende Teil der Bäume waren aber Erstbesteigungen. Vor allem bei den Sumpfeichen bedeutete dies sehr viel Arbeit. Daneben gab es noch Platanen, Eschen und Amberbäume, teilweise bis zu 35 Meter hochgewachsen. Um die Grabsteine zu schützen, hatten wir uns Schutzbauten ausgedacht, die wir vor Ort herstellten und über die Grabsteine stellten. Damit waren auch die auf den Grabsteinen liegenden kleinen Steinchen geschützt, die von Angehörigen und Trauernden dort hingelegt worden waren und die nicht bewegt werden durften. Jeder im Team war betroffen von diesem Ort und seiner Geschichte. Viele Gespräche untereinander und mit Besuchern der Anlage folgten in den kommenden Tagen.

Man kann also nicht gerade von einer Spaßbaustelle sprechen. Fünfzehn Alphas, zwei Wochen auch nach Feierabend zusammen, erzeugen doch auch hier und da Reibungen. Für mich und Micha war auch der unternehmerische Druck recht hoch. Ich bekam dann auch am Wochenende zu hören, dass ich mich doch bitte schön zurücknehmen sollte, was mir schwerfiel, da ich inzwischen jeden Baum mit Vornamen kannte und fast zwei Jahre darüber nachgedacht hatte, wie man was am besten bewältigen könnte. Aber es gelang. Zum einen, weil wir schon in der ersten Woche mit einer sagenhaften Arbeitsleistung sehr weit gekommen waren, zum anderen, weil mir ein Infekt zum Wochenende buchstäblich die Sprache verschlagen hatte.

Hatte in den ersten Tagen noch Wind die Arbeit erschwert, so war doch insgesamt angenehm mildes Wetter vorherrschend, der eine oder andere ging abends im Fluss baden. Immer zwei Stunden vor Feierabend ging Meckie mit einem „Schnipselknecht“ davon, um ein köstliches Abendessen zu zaubern. Der Küchendienst funktionierte super und an manchem Morgen hatte unser Fahrradkurier sogar frische Baguettes und Croissants organisiert. Die Fähigkeiten von Tobi und Sven als Klempner waren bei dem nicht mehr jungen Haus sehr hilfreich. Michael Weihs Fotografien bescherten uns eine Fülle von tollen Bildern.

Am Wochenende fanden die französischen Baumklettermeisterschaften im nicht weit entfernten Pau statt, zum Leidwesen aller bei recht nassem Wetter. Einige machten sich auf zum Atlantik (eine gute Autostunde), andere gingen am Sonntag mit Romain und Romain, unseren französischen Kollegen, in die Pyrenäen. Die beiden versorgen mit ihren 15 Eseln in der Sommerzeit die Berghütten und bringen den Käse ins Tal. Hüttenübernachtung, Almabtrieb mit 300 Schafen und Sichtung von Lämmergeiern waren inklusive, die Jungs kamen mit leuchtenden Augen „nach Hause“. Tobi fuhr Samstag in die Pyrenäen (kam völlig verfroren zurück) und Sonntag ans Meer, mit dem Fahrrad!

In der zweiten Woche war langsam Land in Sicht. Mit den bestellten Schleppern und Hängern verschwanden die mehr als 500 Kubikmeter Astmaterial erfreulich schnell. Am Mittwoch dann wurde der letzte Baum geschnitten, und für den Folgetag waren nur noch 40 Hänger Kleinkram zu kehren und zu laden. Abends gab es dann bei Romains Mama ein Fest auf einem magischen Platz mit Panoramablick auf die nahen Berge, einer uralten Heldbockeiche und mit dem mächtigsten Feigenbaum, den ich bislang in Europa gesehen habe. Das Holz der Schutzbauten nährte das Lagerfeuer und das Lamm vom heimischen Metzger schmeckte köstlich.

Das Haus wurde geputzt, es leerte sich und jeder machte sich (mit ein paar Kilos ausgezeichnetem Käse) auf den (bei manchem sehr) langen Weg nach Hause. Da wartete für die meisten viel liegengebliebene Arbeit, für den Fotografen viele Bilder, die zu sortieren waren, für mich viel Papierkram und die Hauptsaison rollte auf uns zu.

Informationen zu Gurs
Gurs wurde für viele Menschen zum „Vorhof zur Hölle“. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war in Gurs, einer französischen Ortschaft am Westrand der Pyrenäen, das größte französische Internierungslager. Unter der Regierung Daladier und dem Vichy-Regime wurde es ein Internierungslager für Zivilisten und Kämpfer des spanischen Bürgerkrieges. Dazu kamen „unerwünschte“ Franzosen (Juden, Linke, Pazifisten …) oder „unerwünschte“ Flüchtlinge aus Deutschland, unter ihnen Hannah Arendt. Im Oktober 1940 wurden über 6500 Juden aus Süddeutschland nach Gurs verschleppt. Es war die erste organisierte Deportation von deutschen Juden. Viele von ihnen starben schon im Winter 41/42 in Gurs, die meisten anderen wurden später von Gurs nach Auschwitz und Birkenau deportiert und dort ermordet. 1957 ergriff der Oberbürgermeister von Karlsruhe gemeinsam mit dem Oberrat der Israeliten Badens die Initiative: der Friedhof sollte zur Erinnerungsstätte werden. Von 1961 – 1963 wurde die Erinnerungsstätte eingerichtet. Integriert in das Gelände war der Friedhof auf dem viele Bäume gepflanzt wurden. 1994 gestaltete der israelische Künstler Dani Karavan auf dem Gelände eine Skulptur in Form einer Baracke.

 

Der Autor: Peter Schmeller (E-Mail)
Ausbilder und PSA-Prüfer, Fachagrarwirt für Baumpflege und Baumsanierung

 
Bildergalerie "Mit Respekt vor den Opfern", Kletterblatt 2013 Online blättern im Kletterblatt 2013: "Mit Respekt vor den Opfern" Nach oben
 

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