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… auch eine Reise in die Geschichte des Baumkletterns

Besuch bei Baumpflegern in Sankt Petersburg: Lutz Hoffmann und Jasper Bauer von Astwerk Hamburg hatten schon einige Jahre regelmäßigen Kontakt zu russischen Baumpflegern. Schließlich machten sie sich auf die Reise nach St. Petersburg, um an einem Baumpflegeprojekt mitzuarbeiten. Sie trafen auf alte Baumpflegemethoden und lernten eine interessante Aufstiegstechnik kennen. Erinnerungen von Tim Schröder – nach einem Reisebericht von Lutz Hoffmann.

Als mich Lutz Hoffmann, Baumpflege-Kollege aus Hamburg, fragte, ob ich an einer Reise nach St. Petersburg teilnehmen wolle, um für ein paar Tage mit russischen Kollegen zusammenzuarbeiten, brauchte ich natürlich nicht lange zu überlegen. Eine Reise nach Petersburg, einer Partnerstadt von Hamburg, das versprach touristische und berufliche Erlebnisse. Und tatsächlich sollten wir viele liebenswerte Menschen, eine wunderschöne Stadt und eine, im Vergleich zu unserem Berufsalltag, ziemlich andere Art des Baumkletterns sowie der Baumpflege kennenlernen.

Lutz hatte schon seit 2002 Kontakt zu dem russischen Baumpfleger Anatolij Vobojev, der uns zur Mitarbeit an einem Baumpflegeprojekt eingeladen hatte. Zu unserer Gruppe gehörten neben Lutz und mir noch Jasper, ebenfalls Fachagrarwirt für Baumpflege und Baumsanierung sowie Sayana. Als Dolmetscherin war sie unser Schlüssel in eine für uns unbekannte und fremde Welt. Denn mit dem üblichen Englisch kann man in Russland nicht mitten- drin und dabei sein.

Aber zuerst standen wir einmal auf dem Flughafen und warteten: eine verlassene Gruppe mit großem Gepäck, schweren Werkzeugtaschen und Kletterausrüstung. Zum Glück hatte der russische Zoll keine Probleme gemacht. Doch jetzt warteten wir auf unseren Gastgeber Anatolij, der uns vom Flughafen abholen sollte. Doch von Anatolij war nichts zu sehen. Wie er uns später sagte, hatte er im Stau gestanden. Natürlich, denn in der ganzen Stadt Sankt Petersburg steht der Verkehr zu dieser Zeit mehr oder weniger im Stau.

Wir fuhren in Anatolijs Baumpflegerbus mit dem Stau in die riesige Stadt. Zuerst durch die äußeren Gebiete mit den sozialistischen Plattenbauten, dann in den mittleren Ring mit seinen Altbauten aus der Stalinzeit. Die breiten Straßen führen kilometerweit schnurgerade in das Zentrum. Ausmaß und Pracht der Altstadt sind beeindruckend. In kurzer Zeit war sie auf Befehl des Zaren Peter des Großen in den Sümpfen des Newa-Deltas gebaut worden. Die Fassaden der historischen Gebäude, Plätze und Paläste sind größtenteils saniert. Man nennt die Stadt auch das Venedig des Nordens. Sie ist neben Venedig die Stadt mit den meisten von der UNESCO geschützten Denkmälern.

Russische Gastfreundschaft
Anatolij führte uns in eine Wohnung in der Altstadt, die wir in den nächsten Tagen alleine bewohnen durften. Dort empfingen uns Ludmila und Mascha, seine Frau und Tochter, mit einem großen Buffet voll wunderbarer russischer Köstlichkeiten. Welch eine Gastfreundschaft!

Als Gastgeschenke hatten wir für ihn, von Baumpfleger für Baumpfleger, einen LockJack, einen RopeGuide und weitere spezielle Werkzeuge für die Baumpflege und das Baumklettern mitgebracht.

In unserer ersten Petersburger Nacht wurden wir von nicht erwartetem Lärm aus dem Schlaf gerissen: statt röhrender Autos plötzlich klappernde Pferdehufe. Wie wir später erfuhren, werden zwischen zwei und fünf Uhr alle Brücken über die Newa wegen des Schiffsverkehrs hochgeklappt. Und dann beginnt die Zeit der Pferde. Wir haben es später bei nächtlichen Ausflügen in die Stadt erlebt. Jugendliche Reiter galoppieren auf ihren Pferden durch die Gassen und Straßen der Innenstadt.

Zum Frühstück wurden wir von Mascha mit frischen Spezialitäten vom Lande verwöhnt. Danach konnte die Arbeit beginnen. Zuerst fuhren wir mit der Metro in einen Außenbezirk, wo wir uns mit Anatolij treffen wollten. Sankt Petersburg hat die tiefste Metro der Welt. Bis 100 Meter tief führen die breiten Rolltreppen zu einem breiten und großzügig angelegten Tunnelsystem, das luxuriös mit Marmorwänden und Kronleuchtern ausgestattet ist: „Paläste des Volkes.“ Hier kann man mit Recht von pulsierenden Verkehrsadern sprechen. Ungeheuere Menschenmassen bewegen sich durch den Untergrund und ständig rollen Züge in die Bahnhöfe ein.

Russische Baumpflege im Park
Danach fuhren wir mit dem uns schon bekannten Baumpflegerbus in die großen Schloss- und Parkanlagen Alexandria und Peterhof zu einem sogenannten Schloss Cottage. Dieses ist die ehemalige Residenz der Gemahlin des Zaren Nikolaus I. inmitten eines riesigen Parks. Hier sollten wir Eichen vom Totholz befreien. Die Vitalität der meisten Bäume ist etwas schlechter als bei uns. Man sieht viele Stieleichen und die Vegetation am Boden verrät den feuchten Standort. Diese riesigen Parkanlagen waren mit Bäumen aus aller Welt von berühmten russischen und europäischen Gartenarchitekten für die Zaren angelegt worden. Die größten und weitläufigsten Teile entsprechen dem Stile des englischen Landschaftsparks. Man findet jedoch auch Bereiche, die nach dem Vorbild von Versailles angelegt worden waren.

Hier sollten wir also Totholz entfernen. Anatolij sei ein strenger Chef, sagte man uns. Und wir sollten jedes, auch noch das  kleinste, Totästchen entfernen.  Bei unseren Kronenpflegeschnitten in Hamburg belassen wir hin und wieder solche kleinen Zweige von ein bis zwei Zentimeter Durchmesser. Wir nennen diese Vogeltrittholz. Hier putzten wir also die vier Stieleichen ganz sauber. Eine vorsorgliche Einkürzung überlanger Äste hält Anatolij bei diesen Bäumen für nicht so wichtig.

Als Jasper einen größeren Totast mit der Motorsäge entfernte, kam es zur Diskussion. Wir sollten weiter zum Stamm sägen, also in den Astkragen. Die Erkenntnisse von Shigo über natürliche, baumeigene Schutzzonen im Astkragen waren Anatolij wahrscheinlich unbekannt. Der amerikanische Forstwissenschaftler Shigo hatte vor ca. 15 bis 20 Jahren bei uns mit seinen Erkenntnissen über baumeigene Abwehrfähigkeiten den gesamten Katalog unserer Arbeitstechniken revolutioniert. Der Baum selbst erzeugt bei Verwundungen in bestimmten Zonen Substanzen, die einer Besiedelung und einem Abbau durch Pilze entgegenwirken. Man belässt deshalb besser diese Gewebe im Astkragen. Jetzt waren wir also beim Motto unserer Reise angelangt! Unsere Reise war auch eine Reise in die Geschichte der  Baumpflege und unseres Berufsstandes. Wie wir später noch sehen durften, gibt es in Sankt Petersburg noch eine handwerklich hoch entwickelte und tief verwurzelte Tradition der Baumchirurgie. Ebenso ein ausgeprägtes Bewusstsein bezüglich des Zierwertes „natürlich aussehender“ Bäume, die die teils riesigen historischen Parkanlagen schmücken.

Aber war es in Deutschland nicht ganz ähnlich? Bis die „Moderne Baumpflege“ Eingang in die technischen Regelwerke unserer Zunft fanden, vergingen viele Jahre der Auseinandersetzung. Sayana versucht nach bestem Verstehen zu übersetzen. „Neue Baumbiologie“ und „Hamburger Schnittmethode“ in vier Minuten – und das, obwohl es für sie schon schwer war, den Inhalt zu verstehen. Wir nahmen uns vor, das später noch einmal mit Anatolij zu besprechen.

Im Park entdeckten wir einige Bäume, in denen Kronensicherungen eingebaut waren. Bei diesen Sicherungen handelt es sich um Konstruktionen aus gespannten Stahlseilen und ca. 10 cm breiten Stahlstreifen, die über einem Gummischutz den Baum halbkreisförmig umschlingen. Da auch Seilspanner eingebaut sind, lässt sich das System wohl leicht nachregulieren. Auch die halbkreisförmigen Umschlingungen scheinen sehr dauerhaft zu sein, aber wie sind die Auswirkungen auf die Bäume?

Russische Aufstiegstechnik
Am nächsten Morgen trafen wir Viktor und Volodja aus Anatolijs Team. Beide arbeiteten und kletterten schon seit über 25 Jahren zusammen. Trotz Sprachbarriere hatten wir zu diesen sympathischen russischen Kollegen sofort einen direkten Draht. Aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen mit Bäumen konnten wir da Verbindungen schaffen, wo mangelnde Sprachkenntnis eigentlich Sperren errichtet. Lutz demonstriert an einer toten Stieleiche, die gefällt werden soll, den Einsatz von Steigeisen. Dass die Verwendung von Steigeisen nur bei Fällungen zulässig sei, musste Sayana nur mit den ersten Worten übersetzen, da winkten die russischen Kollegen schon ab. Das sei wegen der zu erwartenden Verletzungen ja selbstverständlich!

Nun zeigten uns Viktor und Anatolij ihre Aufstiegstechniken. Anatolij hatte davon schon vorher berichtet. Als er uns vor zwei Tagen beobachtete, meinte er, unsere Methode, vom Boden aus in die Baumkronen zu gelangen, sei viel zu mühsam, die russische Technik könne man anwenden, bis man 80 sei. Bei dieser Methode wird kein Seil vorher eingeschmissen. Viktor bestieg mit Hilfe von zwei Strickleitern mit je vier Sprossen eine Eiche. Dabei stand er jeweils auf der einen Strickleiter, während die zweite mit Hilfe eines Seiles mit Karabinerhaken etwas höher um den Baum geschlungen und so befestigt wurde. Nach dem Erreichen der Krone kletterte er, ähnlich wie wir es tun, hoch in die Krone, um den Ankerpunkt für die Seile zu finden. Danach kehrte er an die eigentliche „Arbeitsstelle“ zurück.

Auch beim Astschnitt führen die russischen Baumkletterer ihre Strickleitern mit und benutzen sie, an den Ästen hängend, als Tritte. Im Gegensatz zu uns treten sie dadurch weniger häufig direkt auf die Äste.

Wie wir später noch sehen sollten, können Viktor und Volodja mit ihrer Methode die Stämme auch schräger, dicker und knorpeliger Bäume sehr schnell und souverän besteigen. Bei einem kleinen Wettkampf  unter Anwendung beider Aufstiegsmethoden mussten wir uns schon anstrengen und wir sind wirklich nicht die Langsamsten. Bei Anwendung der Doppelseilklettertechnik verlieren wir zu Anfang manchmal wertvolle Minuten, da wir erst mittels eines Wurfbeutels eine Wurfschnur in der Krone platzieren, um daran das Aufstiegsseil hochziehen zu können. Nur wenn der Wurfbeutel zielsicher mit den ersten Versuchen den ausgewählten Ankerpunkt triff und alles passt, hatten wir eine Chance!

Russisches Arbeitsklettern
Das russische Arbeitsklettern in den Kronen unterscheidet sich nicht allzu sehr von der Doppelseilklettertechnik. Die Sicherung am Arbeitsseil ist etwas anders. Die russischen Baumkletterer benutzen zwei übereinander angeordnete Klemmknoten („Prusik“) zur Sicherung am Kletterseil, einen aus einem dickeren Seil und den zweiten, sozusagen „Reserveknoten“, aus einem dünneren. Wir hingegen benutzen nur einen „Prusik“, was mir jedoch nicht nachteilig zu sein scheint.

Der zentrale Aufhängepunkt der russischen Klettergurte sitzt recht hoch, das macht das weite Herausklettern in die Kronenperipherie in mancher Situation etwas schwierig. Vielleicht deshalb setzten Viktor und Volodja beim Kronenschnitt oft die Stangensäge ein. Ich erklärte ihnen, dass unsere Auftraggeber bei Schnitten im Feinastbereich darauf achten, dass die richtigen Schnittwinkel eingehalten werden. Dieses ist mit der Stangensäge nicht immer einfach zu bewerkstelligen.

Lutz beschrieb den russischen Kollegen die noch relativ junge Geschichte der Baumkletterei in Deutschland. Da sie auch in Konkurrenz und als Ergänzung zum vorher üblichen Hubsteigereinsatz entstanden sei, müsse sie sich immer auch dem direkten Vergleich stellen und daran messen lassen. Laut Anatolij werden in Russland Baumarbeiten üblicherweise nicht mit der Hubarbeitsbühne gemacht. Das habe keine Tradition. Vor 30 bis 40 Jahren hätten Alpinisten damit begonnen, die Bäume in ihrer Art zu pflegen. Und so sei das Klettern bis heute die übliche Art, in die Bäume zu gelangen.

Am nächsten Tag fuhren wir zu einem historischen Friedhof am Alexander Nevsky Kloster, in der Altstadt am Ufer der Newa. Hier liegen viele berühmte russische Persönlichkeiten begraben, von Dostojewski bis Tschaikowski. Die Grabmäler sind kostbare Steinmetzarbeiten mit faszinierenden religiösen Ornamenten. Anatolij macht uns klar, dass es ihn viel Mühe gekostet habe, die langen Wege durch die russische Bürokratie zu gehen, um eine Erlaubnis zu erhalten, mit uns an diesem besonderen Ort arbeiten zu dürfen.

Nun kamen auch Anatolijs Leute, die Kletterausrüstung und die Werkzeuge in einem Rollkoffer hinter sich herziehend. Volodja überraschte uns mit einem lautstarken „Donnerwetter noch mal“, passend zum Donner das stark und lange gerollte „r“. Alles lachte. Volodja kam in Karl Marx Stadt, dem heutigen Chemnitz, auf die Welt und hat noch einige Brocken Deutsch nach Petersburg mitgenommen.

Jasper und Lutz schnitten eine ausladende Stieleiche. Der breite, filigrane Wuchs der Baumkrone erstreckte sich weit über die Gräber mit ihren wertvollen Grabmälern. Sie beschlossen, die Krone im Feinastbereich vorsorglich zu entlasten. Die leichte Auslichtung im Kronenmantel stellte höchste Ansprüche an ihre baumpflegerische Kompetenz, da die Ästhetik dieses Gesamtbildes, der schöne Baum mit den bedeutenden Grabmälern, unbedingt erhalten werden musste. Was nicht nur hier gelang, denn Anatolij ho norierte unsere Schnitt- und Kletterarbeit mit wohlwollenden Worten.

Später zeigt uns Anatolij einen von ihm sanierten Baum auf dem Friedhof. Er hatte bei einer alten Linde das gesamte Faulholz entnommen. Der mächtige Stamm des Baumes ist bis in eine Höhe von ca. zehn Meter vollkommen ausgehöhlt. Die Öffnungen hat er mit zugeschnittenen und entsprechend der Stammform gebogenen Blechen verschlossen. Ein signifikantes Beispiel für die hier noch übliche Baumchirurgie.

Russischer Abschied
Anatolijs Leute luden uns später zu einem Abschiedsessen ein. Inmitten der alten, dicht zusammenstehenden Grabsteine wird ein kleines Tischchen gedeckt. Es gab russischen Gemüsekuchen, Huhn, Brot, Früchte und Tee. Auf den uns umgebenden Grabmahlen befinden sich ganz besondere Ornamente und Inschriften, die einen heiteren, beinahe ironischen Umgang mit dem Tod bezeugen. Die Karikaturen von Totenköpfen, die entweichenden Seelen, die Schlange der Unendlichkeit, ein gebrochener Anker, verbinden sich im Erleben mit der Herzlichkeit unseres Zusammenseins und machen dieses Picknick an diesem ungewöhnlichen Ort zum Höhepunkt der Reise.

Und dann war es auch schon vorbei. Bis zum Tag des Abschiedes hatten wir noch zwei Tage Zeit, in denen wir mit Anatolij die Stadt besichtigten und aufs Land fuhren. Der Abschied begann, wie sollte es auch anders sein, mit einem von Ludmila und Mascha vorbereiteten Festessen. Anatolij verteilte Geschenke und mit Sekt stießen wir auf unser Austauschprojekt an, mit der Absicht, dieses fortzusetzen. Dann also auf ein Wiedersehen in Hamburg.

Der Autor: Tim Schröder
Baumdienst Nortis

Mit Inspiration von: Lutz Hoffmann, Jaspar Bauer
Astwerk

 

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Online blättern im Kletterblatt 2011: "Auch eine Reise in die Geschichte des Baumkletterns" Nach oben
 

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