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Flaschenzüge: Raffiniert neu definiert

Flaschenzüge sind eigentlich einfache Maschinen. Nach Ansicht der Autoren haben sich Theorie und Praxis in den letzten Jahren auseinander entwickelt. Dieser Artikel will die Wege wieder zusammenführen. Von Mathias Oppolzer, Thomas Wahls und Dirk Lingens.

Im Schein einer Laterne sucht ein Mann auf allen Vieren kriechend nach einem kleinen Gegenstand. Eine Frau kommt dazu, bietet Hilfe an und nun suchen sie zu zweit. Nach einer halben Stunde vergeblichen Suchens fragt die Frau den Mann, wo er denn die Sache verloren habe. Auf eine dunkle Hecke zeigend sagt dieser: „Dort drüben.“ „Aber warum suchen Sie dann hier?“ „Hier kann ich besser sehen.“

Was lehrt uns das über Flaschenzüge?

1. Es herrscht viel Dunkelheit.
2. Gesucht wird dort, wo es hell ist.

Ist das Wissenschaft?
ergeht es nicht anders als anderen Wissenschaftsbereichen: Es wird versucht die viel zu komplexe Welt mittels – Sinn – zu filtern und auf ein Modell, eine Theorie, zu reduzieren. So weit so gut. Aber jetzt passieren oft zwei Fehler:

1. Es wird vergessen, dass das Modell nur ein Abbild der komplexen Welt ist – mit unsicherem Wahrheitsgehalt.
2. Es wird unterschlagen, dass das Modell nie die ganze Komplexität abbilden kann, sondern immer nur einen
    kleinen Teil davon.

KB15-01: Flaschezüge, Grafik 1

Die Theorie der Flaschenzüge – vom Schulbuch bis Wikipedia – kann nur reine Potenz- und reine Faktorenflaschenzüge und den Sonderfall des Differentialflaschenzuges beschreiben und lässt demzufolge alle anderen Konfigurationen weg. Das hilft uns aber nicht weiter. Deswegen wird der Bogen hier weiter gespannt. So weit, dass mindestens unsere Baustellenwelt nicht nur abgebildet, sondern bezüglich Flaschenzüge auch vollständig erklärt wird. Und wenn sich dann eines Tages die Schulphysik und Wikipedia mit der Baum- und Industriekletterei austauschen, dann haben die beiden Schlüsselsuchenden ein gutes Stück mehr Licht.

Wir können an dieser Stelle keine seitenlange Erklärung für die Grundlagen abgeben. Darum verweisen wir auf frühere Artikel von uns: Entspannt auf Spannung, Kletterblatt 2006 und Swiss-Rig, Kletterblatt 2013. Ebenso sollen die drei Infokästen (Grafik 3 bis 5) unsere Aussagen verdeutlichen.

Wie bringen wir nun Licht in den Schatten der Hecke?
Unzufrieden mit den klassischen Herangehensweisen und angetrieben von verstörenden Beobachtungen (Grafik 1, Beispiel 2) haben wir das Thema noch einmal von Grund auf neu durchgespielt. Die ersten Versuche der Neudefinition waren auch für uns mit viel Diskussion verbunden und nach intensiver Arbeit können wir endlich ein für uns rundes Ergebnis vorstellen.

Wir beginnen damit, alte Erklärungsmuster, wie jene der „Losen“ und „Festen Rolle“, so zu formulieren, dass Ihr in der Lage seid, besser zu verstehen und zu beschreiben, was in Flaschenzügen passiert. Dafür beziehen wir uns auf grundlegende physikalische Gesetze und definieren einige Begrifflichkeiten neu, um besser zu beschreiben, was uns begegnet:

1. Definition „Flaschenzug“:
Ein Flaschenzug ist eine einfache Maschine, die den Betrag der aufzubringenden Kraft, z. B. zum Bewegen oder Heben von Lasten verringert. Diese bestehen aus Umlenkungen und einem Zugmedium (Seil, Schlingen, Schnüre etc.). Die zu erbringende Arbeit (Kraft x Weg) bleibt gleich.

2. Begrifflichkeit „Rollen“:
Rollen sind Umlenkungen, aber nicht alle Umlenkungen müssen Rollen (z. B. Karabiner, Abseilgeräte, Rohre etc.) sein.

3. Das Hebel-Axiom:
In allen 180˚ Umlenkungen wirken ein einarmiger, ein zweiarmiger Hebel sowie Reibung, Normal- und Querkräfte. Damit sind auch alle Umlenkungen im Positiven wie im Negativen mechanisch wirksam.

4. Definition „Zugpunkt“:
Ein Zugpunkt ist die Stelle, an der die Verkürzung des Zugmediums im Flaschenzug stattfindet.

5. Definition „Aktive Umlenkung“:
Eine „Aktive Umlenkung“ ist gegeben, wenn die Distanz vom Zugpunkt zur Umlenkung sich beim Ziehen verändert. (Unabhängig davon, ob sich von außen betrachtet der Zugpunkt bewegt oder die Umlenkung!)

6. Definition „Passive Umlenkung“:
Eine „Passive Umlenkung“ ist gegeben, wenn die Distanz vom Zugpunkt zur Rolle beim Ziehen immer gleichbleibt.

Daraus lassen sich folgende Grundsätze ableiten:

1. Auch Umlenkungen, deren Positionen im Raum sich nicht verändern, können als aktive Umlenkungen in
    Erscheinung treten. Nicht nur die klassische „lose Rolle“!
2. Nur aktive Umlenkungen haben einen Einfluss auf die Übersetzung eines theoretisch reibungsfreien Systems.
3. Passive Umlenkungen haben keinen Einfluss auf die Übersetzung eines theoretisch reibungsfreien Systems.
4. Relative Flaschenzüge sind solche, in denen mindestens eine Rolle ihre Position im Raum nicht ändert, aber
    einen Einfluss auf die Übersetzung hat.
5. Definition „Bezugsebene“: Anschlagebenen, Gewicht an Zugmedium und „Zugpunkt“

Na, schon erleuchtet? Nein? Das Problem kennen wir, und daher noch ein paar mehr Worte dazu: Das wesentliche Problem liegt in der bisherigen Herangehensweise, Flaschenzüge nur mit den so genannten „Losen“ und „Festen Rollen“ erklären zu wollen. Diese sind aber spezielle Fälle und sind dadurch, auch wenn sie häufig vorkommen, nur begrenzt geeignet, alle Flaschenzüge richtig zu erklären. Anhand von vier Beispielen werden wir die zuvor erwähnten Definitionen und Grundsätze anwenden und die Problematik der Erklärungsmuster von „Loser“ und „Fester Rolle“ betrachten:

KB15-01: Flaschezüge, Grafik 2

(Grafik 2) Im Beispiel 1 sehen wir eine klassische „Feste Rolle“: Die Last hängt frei, die Umlenkung befindet sich an einer Struktur, gezogen wird vom Boden aus. Die Übersetzung im reibungsfreien System ist 1:1, es ist kein Effekt auf die Übersetzung vorhanden und damit eine passive Umlenkung. Das Doppelte der aus dem Gewicht der Last resultierenden Kraft wirkt im Ankerpunkt der Umlenkung. Tatsächlich ist diese Rolle „fest“ im Raum. Der Abstand a von der Rolle R zur Decke D ist im ganzen Hubvorgang gleich. Ebenso bleibt der Abstand b vom Zugpunkt Z zur Rolle R in diesem Beispiel immer gleich. Hier sind wir uns mit der Erklärung in den Schulbüchern einig.

Wir springen nun zum Beispiel 4. Dort erkennen wir die klassische „Lose Rolle“: Das Seil ist an einer Struktur angeschlagen, die Last hängt an einer Umlenkung (zum Beispiel in einem Schacht), gezogen wird wieder vom Boden aus. Die Last wird stets auf beide Seilstränge verteilt, daher ergibt sich eine Übersetzung von 1:2 und wir haben eine aktive Umlenkung. Dem traditionellen Namen nach ist diese Rolle lose im Raum. Der Abstand a von der Rolle R zur Struktur D verändert sich im Prozess. Ziehen wir am Zugpunkt Z, verändert sich auch der Abstand vom Zugpunkt Z zur Rolle R. Um die Last dieselbe Distanz wie im Beispiel 1 zu heben, muss die doppelte Strecke Seil eingeholt werden. Auch hier sind wir uns mit der Erklärung in den Schulbüchern völlig einig.

Das funktioniert so in einfachen (Faktor- und Potenz-)Flaschenzügen, in kombinierten sowie in komplexen Systemen. Doch die Beschreibungen „lose“ und „fest“ sind relativ, je nachdem, von wo das System betrachtet wird! Wollen wir auch die Klasse der relativen Flaschenzüge richtig erklären, zum Beispiel im umlaufenden System, welches in der SKT verwendet wird oder wie sie uns in Aufzügen begegnen, sind die herkömmlichen Erklärungsmuster nicht aufschlussreich:

Im Beispiel 3 sehen wir den gleichen Aufbau wie im Beispiel 4: Doch der Zugpunkt Z ist fest mit der Last verbunden! Weiterhin bewegt sich die Rolle R im Raum, da sich der Abstand a von der Rolle R zur Struktur D beim Ziehen verändert. Allerdings bewegt sich der Zugpunkt Z mit der Last und auch mit der Rolle R nach oben. Die Distanz b von der Rolle R zum Zugpunkt Z bleibt im Prozess gleich. Auch hebt sich das System exakt um die eingeholte Länge Seil an. Damit haben wir ein 1:1 System und eine passive Umlenkung, obwohl die Rolle scheinbar „lose“ ist!

Im Beispiel 2 stellen wir nun den Begriff „fest“ auf die Probe: Uns begegnet ein ähnlicher Aufbau wie im Beispiel 1. Nur dass auch hier eine feste Verbindung zwischen dem Zugpunkt Z und der Last vorliegt. Der Abstand a von der Rolle R zur Decke D bleibt beim Hubvorgang gleich, damit ist die Rolle fest im Raum. Wieder verteilt sich die Last gleichmäßig auf beide Seilstränge. Auch muss am Zugpunkt die doppelte Seillänge 2b eingeholt werden, um die einfache Strecke b aufzusteigen. Es gibt also einen Effekt auf die Übersetzung von 1:2. Und wieder verändert sich die Distanz vom Zugpunkt Z zur Rolle R. (Siehe Grafik 3)

Fazit:
Wenn wir Licht ins Dunkel bringen wollen, müssen wir manchmal eben die Perspektive wechseln!

Allerdings kann es zu unnötiger Verwirrung führen, wenn in der Euphorie des Entdeckens pauschal alle Begriffe in Frage gestellt werden. Dies ist uns selber passiert. Daher haben wir uns zusammen getan, um die verschiedenen Schulen (Herangehensweisen) und Erkenntnisstände zusammen zu führen. Dazu war es nötig, die Begrifflichkeiten in diesem Bereich zu verändern und anzupassen, damit Erklärungen aller uns bekannten Flaschenzüge in Zukunft einfacher und weniger verwirrend werden. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, die klassischen Erklärungen beizubehalten und das umlaufende System als Sonderfall zu betrachten. Unserer Meinung nach schränkt dies den Blick von Anfang an zu sehr ein.

Anmerkung:
Dieser Artikel setzt einiges an Grundwissen voraus und richtet sich vor allem an jene, welche anderen die Thematik vermitteln wollen. Für alle, die sich Flaschenzügen in Theorie und Praxis von Grund auf nähern wollen, ist ein umfassendes Buch in Arbeit. Das soll voraussichtlich bis zum Herbst 2016 veröffentlicht werden. (Siehe Grafik 4 + 5)

Grafik 3
Grundlagen „Freischneiden“
Ein kurze Erklärung des Freischneidens von Flaschenzügen von Dirk aus 2006: Die Verhältnisse der Mischformen und der, für die es keinen Namen gibt, sowie aller anderen Flaschenzüge lassen sich auch berechnen. Die Methode nennt sich „Freischneiden“. An einem einfachen Beispiel (ein klassisches Z-Rig) lässt sich das Prinzip darstellen: Man beginnt am Ende und schreibt an das Seil des Flaschenzuges, an dem gezogen wird, eine 1. An der ersten Rolle wird die Kraft umgelenkt. Also steht an dem Seil, das die erste Rolle verlässt, auch eine 1. An der Rolle wirken 2 mal 1. Das Seil mit dem Faktor 1 verläuft weiter zur nächsten Rolle, wird dort umgelenkt und wirkt zusammen mit der „Faktor-2“-Rolle an der Last. 1+2 = 3. Nach diesem Prinzip lassen sich alle hier abgebildeten Flaschenzüge errechnen.
KB15-01: Flaschezüge, Grafik 3

 

Grafik 4
Die Goldene Regel der Mechanik
Die Goldene Regel der Mechanik besagt, dass Arbeit = Kraft x Weg.
Dieses Gesetz hat uns die Möglichkeit gegeben, die Beobachtung aus Beispiel 2 und andere durch Messungen zu beweisen. Damit
wird die Theorie durch die Praxis bestätigt. (Da sich diese Regel auf reibungslose Systeme mit idealen Seilverläufen bezieht, sind diese Versuche Annäherungen.)
KB15-01: Flaschezüge, Grafik 4
Beispiel: Person / Gewicht liegt auf dem Boden in gebremster Rolle. Das Seil wird mit einem Stück Klebeband direkt hinter der Rolle markiert.
Das Gewicht wird über das Seil die Strecke X angehoben. Diese Strecke X entspricht dem Abstand zwischen Markierung auf dem Seil und der Rolle.

 

Grafik 5
Grundlagen „Hebelgesetze“
Eine weitere Hilfe zum Verständnis der Funktion der Rollen in Flaschenzügen bietet die Betrachtung
der Hebelgesetze.

„Riesig ist des Schlossers Kraft, wenn er mit dem Hebel schafft.“
Es ist klar, dass ein Hebel, richtig eingesetzt, eine Kraftersparnis einbringt. Ein zweiarmiger Hebel erfordert zum Heben (Drehpunkt mittig) auf beiden Seiten die gleiche Kraft (ähnlich wie eine Aufhängung im gleichschenkligen Kräftedreieck). Ein einarmiger Hebel verringert durch seine Länge den Kraftaufwand.

KB15-01: Flaschezüge, Grafik 5a Ersatzsituation
„zweiarmiger Hebel“
mit Drehpunkt D
in der Mitte:

weil r = konstant
ist auch
FZ = FL

KB15-01: Flaschezüge, Grafik 5b Ersatzsituation
„einarmiger Hebel“
mit Drehpunkt D am
Hebelende:

weil lz = 2lL
gilt
FL= 2FZ

Der „zweiarmige Hebel“ beschreibt immer die Kraftübertragung entlang des Seiles. Der „einarmige Hebel“ beschreibt immer die Kraftübertragung zum Anker der Rolle.
Während eines Zugvorgangs sind immer beide Hebel aktiv!

 

Alle Abbildungen erstellt von Mathias Oppolzer

Die Autoren:
Dirk Lingens
Selbständiger Baumpfleger, Ausbilder der Münchner Baumkletterschule, Autor des Buches Baumknoten
Weitere Informationen

Thomas Wahls
SZT, Höhenrettung, Baumpflege, Dozent für SZT
Weitere Informationen

Mathias Oppolzer
Ba.Sc. Geographie und Gartenbauwissenschaften, Baumpfleger, Dozent für SKT und SZP
Weitere Informationen

 
Online blättern im Kletterblatt 2015: "Flaschenzüge" Nach oben
 

2 Kommentare

  1. Bernd Roth sagt:

    Dies ist ein sehr guter Beitrag, da er nicht nur eine gute Erklärung liefert, sondern auch sehr gut auf die Probleme eingeht.
    Gratuliere !

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