Baumklettermeisterschaft – Die Kunst des Kletterns

Kletterer phänomenal: Bernd Strasser. Neunfacher Weltmeister wird Bernd Strasser häufig genannt. Das ist falsch! Es ist phänomenaler: Bernd Strasser wurde im August 2012 in Oregon zum neunten Mal Weltmeister im Baumklettern …

… und ist damit neunmaliger Weltmeister. Zum ersten Mal war er 1999 Weltmeister geworden. Das heißt, über einen Zeitraum von inzwischen 14 Jahren ist er in der absoluten Weltspitze dabei, neun Jahre führte er die Weltspitze an.

Bernd Strasser ist nicht einfach eine Baumkletterlegende, er ist die Baumkletterlegende und es ist schwer vorstellbar, dass ihm den Rekord „neunmaliger Weltmeister“ jemals jemand abjagen könnte. Höchstens er selbst: mit einem zehnten Titel.

Man kann es fast nicht glauben, dass alleine die tägliche Arbeit diese Leistung möglich macht. Keine Sportförderung, kein Leistungstraining! Viele von uns arbeiten wie Bernd Strasser täglich im Baum. Viele Kletterer bringen in Einzeldisziplinen zum Teil bessere Ergebnisse und Platzierungen, auch wird nicht nur Bernd Strasser deutscher Meister oder Weltmeister. Aber nur er hat es über so lange Zeit geschafft, nationale und internationale Titel zu erklettern. Was ist an und bei Bernd Strasser so einzigartig?

Ist es die materielle Technik? Spezielle Technik und deren perfekte Beherrschung? Bernd Strasser selbst hat mit der HitchClimber-Rolle und seinem TreeMotion-Klettergurt und anderen nützlichen Utensilien viele hilfreiche und ausgefeilte Techniken und Produkte in die Baumkletterwelt eingebracht. Doch bei Meisterschaften gewinnen auch Spitzenkletterer mit anderen Gurten oder anderen Techniken, wie z.B. Joe Harris, der mit dem SpiderJack immer wieder zeigt, dass man auch ohne Knoten Spitzenkletterer weit hinter sich lassen kann, oder Kevin Bingham, der mit dem Rope Wrench beweist, dass auch damit Spitzenergebnisse zu erzielen sind. Und perfekt beherrschen andere Kletterer ihr Material auch.

Es ist etwas anderes, das Bernd Strasser zum Kletterphänomen macht. Bernd Strasser kann mit jeder Technik gewinnen. Er hatte schon vor Jahren bei den Deutschen Meisterschaften in Großbeeren/Genshagen seine Route im Arbeitskletter-Parcours mit dem LockJack vorgeführt und öffentlich gezeigt, dass man auch mit LockJack genial klettern kann. Bei der Europameisterschaft in Moers (Deutschland) hat Hubert Kowalewski Bernd Strasser als einen der Ersten den Prototypen des SpiderJack heimlich klettern und ausprobieren lassen. Kowalewski schwärmt noch heute davon, wie feinfühlig Bernd mit dem Gerät schon beim ersten Mal ohne Übung geklettert ist. Ein Kletterer wie Bernd Strasser klettert mit so viel Gespür für Baum, Technik und Körper, dass er wohl selbst mit einem Schnürsenkel als Klemmknoten sicher und geschmeidig klettern könnte.

Die Stärken von Bernd Strasser sind also nicht die standardisierten Disziplinen, die man mit viel Wiederholung üben kann. Es sind die perfekten traumwandlerischen Bewegungsabläufe, das schnelle Abschätzen schwingender Baumäste; es ist die schnelle Erfassung komplexer Wegstrecken im dreidimensionalen Baumgeflecht; es ist das Zusammenspiel von Fitness, Übung und schnellem dreidimensionalem Denken. Dies wird genau in der Disziplin abgefragt, die bei Meisterschaften die meisten Punkte bringt: dem Arbeitsklettern. Deshalb ist hier Bernd Strasser immer ganz vorne mit dabei. Auch das „Masters“ kommt seinem Talent entgegen. Denn dort werden genau diese Fähigkeiten gefordert. Das Masters ist immer einzigartig und nicht standardisiert, die Kletterstrecken sehr komplex. Nichts kann vor dem Wettbewerb eingeübt und studiert werden.

Glück und Pech gehören natürlich auch dazu. So z. B. 2010 in Chicago, als er bei der Wurfdisziplin patzte. Hätte er hier eine normale Punktzahl erwischt, wäre er im Finale gewesen, so war es am Ende „nur“ Platz 12. Allerdings wurden auch schon Schiedsrichterentscheidungen angezweifelt und Fachkundige sahen andere Kletterer vorn. Aber von Glück kann man bei Bernd Strasser schon lange nicht mehr reden. Er ist in den Einzeldisziplinen selten der Beste und er ist nicht der gesetzte Gewinner, der unschlagbar ist. Er ist niemand, der keine Fehler macht. Aber wer neunmal Weltmeister wird, der ist nicht nur gut oder hat Glück: Nein, der ist einfach eine Klasse für sich. Wer Bernd Strasser beim Klettern zuschaut, ist beeindruckt von der Leichtigkeit und der Geschmeidigkeit, mit der er durch den Baum schwebt. Nichts wirkt ruppig oder überhastet, nichts ist zufällig. Er bewegt sich im Baum wie ein Fisch im Wasser oder ein Vogel in der Luft. Ihm beim Klettern zuzuschauen, ist auch für Kletterlaien ein Augenschmaus.

Außergewöhnlich ist auch der private Bernd Strasser. Er gilt als zurückhaltend, geradlinig und konsequent, er ist lebensfroh und lässt sich nicht verbiegen. Er ist geschäftlich sehr erfolgreich, aber nicht abgehoben. Er ist ein Mensch, der das Außergewöhnliche sucht. Als Champion-Kletterer war er weltweit ein gefragter Auftragnehmer und Ratgeber. Er wurde da angefordert, wo seine Leistung voll zur Geltung kommt: bei schwierigen großen Bäumen.

Neben dem Gelderwerb war dies für ihn das beste Training für die Meisterschaften. Richtig große Bäume, echte „Master“-Bäume haben für gewöhnlich nur die Kletterer in Neuseeland oder Australien mit ihren gigantischen Eukalyptus-Bäumen.

Doch sein Zuhause ist Gomadingen, ein kleiner Ort auf der Schwäbischen Alb. Dort lebt er in einem Einfamilienhaus, das sich auf den ersten Blick nicht von anderen unterscheidet. Aber das ist wohl dem Bebauungsplan geschuldet. Denn Bernd Strasser wäre nicht Bernd Strasser, wenn der erste Blick schon alles offen legen würde. Die Kletterausrüstung hat er mit innovativen Ideen weiterentwickelt. Wenn Hersteller sagten, so ist es, hat er gesagt, so kann es sein. Und so einer baut nicht einfach nur ein Haus wie ein Haus eben ist. Sein Haus hat er aus Strohballen und Lehm gebaut. Nicht so wie Nörgler und Biedermeiers Nachgeborene denken würden, sondern hochmodern. So innovativ wie seine Kletterausrüstung. Stroh und Lehm kombiniert mit ausgetüftelter Energieeffizienz und mit modernstem computergesteuertem Strommanagement. Der Individualist zeigt sich auch bei der Treppe vom Wohnzimmer in die obere Etage. Jede Stufe eine Holzplanke, ein Unikat, eine eigene Baumart, mit eigener Geschichte, selbst gesammelt im Laufe der Jahre.

Bernd Strasser ist Individualist und doch auch ein hervorragender Teamplayer, mit dem und für den schon viele bekannte und unbekannte Kletterer gearbeitet und dabei viel von ihm gelernt haben. Bei den Deutschen Meisterschaften ist er nur angetreten, wenn er sich für die Weltmeisterschaft qualifizieren wollte. War er amtierender Weltmeister und damit automatisch qualifiziert, verzichtete er auf die Teilnahme an der Deutschen Meisterschaft, um anderen die Teilnahme an der Weltmeisterschaft zu ermöglichen und zu zweit oder zu dritt als Team Deutschland aufzutreten.

2013 wird er 45 Jahre. „Schluss mit Klettern“, rufen unsere Berufsvertreter, Krankenkassen und Unfallversicherer. Bernd Strasser zeigt, dass mit 45 Jahren längst noch nicht Schluss sein muss. Wer bei einer Baumkletter-Weltmeisterschaft als ältester Teilnehmer mit 44 Jahren auf höchstem Niveau diese gewinnt, bei dem kann man sich vorstellen, dass es noch lange dauern wird, bis das Können so weit abgeklungen ist, dass er sich im täglichen Arbeitsleben nicht mehr behaupten kann. Ob Bernd Strasser sich mit dem Normalo-Niveau zufrieden gibt, das ist eine andere Frage. Vielleicht gilt auch für ihn „mit 66 Jahren ist noch lange nicht Schluss“. Wir werden sehen.

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