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Wahrscheinlichkeiten statt „kann sein …“

Bewertung von Baumsymptomen: Es reicht nicht aus, bei der Bewertung von Bäumen mit dem Prinzip Hilflosigkeit „Kann sein, dass …“ zu operieren. Wie können aber Problemzonen am Baum genauer eingeordnet werden?

Bei der Beurteilung von Bäumen im Rahmen von Kontrollen oder der Festlegung baumpflegerischer Maßnahmen besteht oft genug das Problem, wie Baumsymptome, die als Gefahrens- oder Versagensmomente definiert sind, richtig bewertet werden. Hier kommt es immer wieder zur Anwendung des „Kann-Prinzips“: Es kann sein, dass dieses Phänomen ein Zeichen ist für usw.

In der gutachterlichen Praxis gibt es für die Einordnung dieses „Kann sein“ eine Abstufung von Wahrscheinlichkeitsgraden. Diese Abstufung von Wahrscheinlichkeitsgraden scheint mir ein gutes Hilfsmittel zu sein, festgestellte „Problemzonen“ am Baum einzuordnen, um nicht vorschnell aus dem „Kann sein“ ein „Es ist“ werden zu lassen.

Es gibt viele klare Fälle, wo es keine Unsicherheit bei der Einschätzung gibt. Es gibt aber auch genug unklare Situationen, die keine eindeutige Folgerung zulassen. Zwar sollte grundsätzlich klar sein, dass ein Schadens- oder Schwächeurteil nicht nur für sich allein betrachtet werden darf, sondern stets im Gesamtzusammenhang eine Einschätzung erfolgen muß. Oft genug aber wird dieses Vorgehen vernachlässigt oder nicht angewendet, und es kommt zu Überreaktionen bei der Kontrolle bzw. den aus ihr resultierenden Pflege- oder Fällmaßnahmen.

Der „Absinkende Ast“ ist ein gutes Beispiel für dieses Problem. Wird bei einem Starkast auf der Unterseite stärkeres Wachstum sichtbar, so kann das ein Anzeichen für eine nachlassende Spannkraft des Baumes sein.

In der Fachliteratur wird bei diesen Zeichen von gelegentlicher Versagensursache gesprochen. Und obwohl beim Bemerken dementsprechender Anzeichen kein Grund für Hysterie besteht, kommt es dennoch oft genug z.B. zur Entnahme von Starkästen.

Mit den aufgezeigten Wahrscheinlichkeitsstufen kann diese Situation überprüft werden, wenn der Zustand des Gesamtbaumes mitberücksichtigt wird: Baumart, Baumalter, Vitalität des Baumes usw.

Allein das Vorhandensein von Druckholz an der Astunterseite dürfte noch kein Grund für ein wahrscheinliches Versagen in Folge dieser Absenk-Beobachtung des Astes sein. Wenn der Baum in einem vitalen Zustand ist und starken Zuwachs bildet, bleibt das Versagen immer noch sehr unwahrscheinlich.

Auch wenn auf der Astoberseite gleichzeitig Abflachungstendenzen sichtbar wären, bleibt es unwahrscheinlich bis eher unwahrscheinlich, dass es zu einem Versagen kommt. Je nach Art und Alter des Baumes können dann weitere Zunahmen der Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden. An einer Pappel wird, in Verbindung mit z.B. mangelnder Versorgung oder allgemein schwächerer Vitalität, das Ast-Versagen eher wahrscheinlich als bei einer alten Eiche, die schon lange von unten Holz anbaut.

Kommt zum schlechten Vitalitätszustand noch ein schlechtes Rindenbild hinzu, wird ein Versagen wahrscheinlich. Sind bereits starke Risse auf der Astoberseite und abgelöste Rindenpartien zu bemerken, wird der Versagensfall sehr wahrscheinlich, kann in Abhängigkeit wiederum von der Baumart oder bei einem devitalisierten Exemplar äußerst wahrscheinlich werden.

Diese Abstufungen der Wahrscheinlichkeit eines Versagens können bei allen Auffälligkeiten am Baum angewendet werden, um besser abwägen zu können inwieweit eine theoretische Annahme tatsächlich eintreten wird oder eintreten kann.

In Abhängigkeit von der eingestuften Wahrscheinlichkeit können dann entsprechend dosierte Maßnahmen empfohlen und durchgeführt werden. Die Empfehlung und Durchführung sollte sich aber auch an den wahrscheinlichen Folgen von Maßnahmen mitorientieren.

Ein sinnloses Herumsäbeln aus Bequemlichkeit oder Angst kann vermieden werden, wenn eine beobachtete Schwachstelle anhand der genannten Grade konsequenter bewertet wird. Genauso hilfreich ist diese Graduierung bei der Vermeidung von Verharmlosungen.

Das „Kann sein“ allein reicht also nicht aus, etwas am Baum Erkanntes zu bewerten. Schließlich ist der Baum als Lebewesen stets für eine Überraschung gut, wie auch immer sie ausfallen mag. Selbst gesunde Bäume können versagen. Vor diesem Hintergrund kann alles möglich sein. Das Handeln sollte durch das Abwägen von Wahrscheinlichkeiten geleitet werden. Gegen Unvorhersehbares gibt es aber keinen Schutz, das Leben ist ständig von Gefahren umgeben.

Abstufung von Wahrscheinlichkeitsgraden
äußerst wahrscheinlich: höchstgradige Wahrscheinlichkeit
sehr wahrscheinlich: stark überwiegende Wahrscheinlichkeit
wahrscheinlich: überwiegende Wahrscheinlichkeit
eher wahrscheinlich: leicht überwiegende Wahrscheinlichkeit
ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich: Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit halten sich die Waage
eher unwahrscheinlich: leicht überwiegende Unwahrscheinlichkeit
unwahrscheinlich: überwiegende Unwahrscheinlichkeit
sehr unwahrscheinlich: stark überwiegende Unwahrscheinlichkeit
äußerst unwahrscheinlich: höchstgradige Unwahrscheinlichkeit

nach Roland Dengler, Vortrag Osnabrücker Baumpflegetage 1990

Der Autor: Klaus Schöpe
Studium der Landschaftsplanung zum Dipl.-Ing., danach tätig im Garten- und Landschaftsbau, Baumpflege-Erfahrung seit 1986, seit 1999 öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Baumpflege, Baumstatik, Baumwertermittlung, Gehölz- und Grundstückswertermittlung, Baumbüro®

 
Online blättern im Kletterblatt 2005: "Wahrscheinlichkeiten statt „kann sein ...“" Nach oben
 

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